Experte ordnet Tötungsdelikt in Berikon AG ein «Je schwerer ein Gewaltdelikt ist, desto seltener sind Mädchen die Täterinnen»

Lea Oetiker

13.5.2025

In Berikon AG ist am Sonntag eine 15-Jährige tot aufgefunden worden. Unter dringendem Tatverdacht steht eine 14-Jährige. Warum töten Kinder andere Kinder? Ein Experte ordnet für blue News ein.

Lea Oetiker, Felix Pal

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Das Tötungsdelikt von Berikon AG löst grosse Trauer aus. Vor Ort und im Netz.
  • Dass mutmasslich eine 14-Jährige eine 15-Jährige getötet hat, ist äusserst ungewöhnlich.
  • Kriminologe und Soziologe Dirk Baier erklärt, warum auch weibliche Jugendliche zu Gewalt fähig sind. 

Ein Tötungsdelikt erschüttert die Schweiz: In der Nähe des Schützenhauses in Berikon AG ist am Sonntag ein 15-jähriges Mädchen mit tödlichen Stichverletzungen von Spaziergängern im Wald gefunden worden

Zur selben Zeit hat die Ambulanz ein 14-jähriges Mädchen verletzt ins Spital gebracht. Es blutete an der Hand. Dieses steht nun unter dringendem Tatverdacht, die 15-Jährige getötet zu haben.

Die genauen Hintergründe und Motive der Tat sind noch unklar. Die Polizei und Jugendanwaltschaft ermitteln intensiv. Laut mehreren Schülerinnen und Schüler soll es eine Auseinandersetzung unter den beiden Jugendlichen gegeben haben. Sie kannten sich von der Kreisschule Mutschellen. 

Warum töten Kinder andere Kinder? Kriminologe und Soziologe Dirk Baier ordnet die Situation für blue News ein:

Zur Person
Universität Bern

Dirk Baier ist Kriminologe und Soziologe, der sich auf Jugendkriminalität, Gewalt- und Extremismusforschung spezialisiert hat. Er leitet das Institut für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaft (ZHAW) in Zürich.

Herr Baier, wie aussergewöhnlich ist es, dass ein so schweres Gewaltdelikt von einer jugendlichen Täterin ausgeht, insbesondere in der Schweiz?
Das ist ein völlig aussergewöhnlicher Fall. Ich kann mich nicht an einen vergleichbaren Fall der jüngeren Vergangenheit in der Schweiz erinnern. Pro Jahr werden etwa zwei weibliche Jugendliche polizeilich wegen eines Tötungsdelikts registriert - inklusive Versuche. Dabei handelt es sich aber so gut wie nie um 14- oder 15-jährige, sondern eher um 16- und 17-jährige.

Gibt es aus Ihrer Erfahrung oder Forschung Hinweise darauf, warum in seltenen Fällen auch Mädchen zu solch extremen Taten greifen?
Es ist festzuhalten, dass auch Mädchen physische Gewalt ausüben. Das war schon immer so und das wird auch immer so sein. Je schwerer ein Gewaltdelikt ist, desto seltener sind aber gewöhnlich Mädchen Täterinnen. Sehr schwere Gewalttaten wie die in Berikon haben nicht nur einen auslösenden Moment. Hier kommen sicher mehrere Faktoren zusammen. Der Vorfall zeigt aber für alle ganz deutlich: Auch Drohungen und Gewalt und weiblichen Jugendlichen sind ernst zu nehmen; auch sie sind zu Übergriffen fähig.

Welche psychologischen oder sozialen Faktoren könnten dazu führen, dass ein Mädchen zu einer solchen Tat wie einem Messerangriff fähig ist?
Wenn Frauen schwere Gewalttaten begehen, sind die Ursachen gewöhnlich nicht sehr viel anders als bei männlichen Tätern: Persönlichkeitsmerkmale wie Impulsivität oder geringe Empathie spielen eine Rolle. Eine positive Einstellung zu Gewalt und aggressiven Konfliktlösungsmustern, aber ebenso natürlich situative Merkmale wie Alkoholkonsum, vermeintliche Provokation oder ähnliches. Das heisst aber nicht, dass diese Merkmale auch im vorliegenden Fall bedeutsam waren.

Aktuell wird viel darüber spekuliert, was der Grund für die Tat sein könnte. Einige Schülerinnen berichten von einer Auseinandersetzung. Glauben Sie, es könnte Mobbing sein?
Auch in Freudenberg in Deutschland 2023, als die 12-jährige Luise getötet wurde, gab es die Annahme, dass Kränkungen und Mobbing eine Rolle gespielt haben könnten. Im vorliegenden Fall kann man das nicht ausschliessen, wobei hier natürlich immer eine Rolle spielt, wie die Beteiligten die Situationen interpretiert haben. Das heisst, es kann immer sein, dass eine Seite etwas als schlimmes Mobbing einstuft, was aber objektiv nicht der Fall war. Und solch subjektive Wahrnehmungen und damit verbundene Gewaltfantasien können dann zu Gewalt führen. Vielleicht war der Auslöser der Tat aber auch ein ganz anderer. Ich denke, wir sollten hier die Ermittlungsergebnisse abwarten.

Welche Bedeutung hat ein Messer als Tatwaffe?
Ein Messer ist die Voraussetzung dafür, dass aus einem Streit eine tödliche Auseinandersetzung wird. Dabei muss es sich gar nicht um ein absichtsvolles Zustechen handeln. Selbst ein Herumfuchteln mit dem Messer kann zu sehr schweren Verletzungen führen. Die meisten Jugendlichen nehmen Messer nicht mit, um jemanden zu erstechen. Es wird leichtsinnig mitgenommen. Die Jugendlichen haben die Illusion, den Einsatz kontrollieren zu können, was dann meistens in einer emotional aufgeladenen Streitsituation nicht mehr der Fall ist.

Gibt es Unterschiede in der Symbolik oder Motivation, wenn ein Mädchen statt eines Jungen ein Messer einsetzt?
Jungen wollen in erster Linie ihre Männlichkeit und Gefährlichkeit damit zeigen. Bei Jungen ist es ein Mittel, um Zugehörigkeit zu signalisieren: Meine Freunde tragen Messer, also trage ich auch Messer. Bei weiblichen Jugendlichen kommt hingegen stärker auch das Schutzargument zum Tragen. Das bedeutet, man führt es mit sich, um sich verteidigen zu können - oder weil man sich unsicher fühlt. Generell ist es aber schon auch der Fall, dass Mädchen Messer mit sich führen, um Dominanz und Stärke zu demonstrieren.

Grosse Anteilnahme im Netz

Auf den sozialen Medien wird unter Videos heftig über den Fall diskutiert. Darüber, wer Schuld ist und welche Massnahmen nun ergriffen werden müssen. Viele schreiben Beileidsbekundungen. Vor allem Jugendliche, die das Opfer wohl kannten. Sie kommentieren Emojis einer weissen Taube. Offiziell steht dieses für den Heiligen Geist und die Auferstehung. Andere schreiben: «Forever 15», also «für immer 15». Oder: «Ich habe sie gekannt.»

Im letzten Jahr wurden 23'080 Urteile gegen Jugendliche ausgesprochen. Dies entspricht eine Zunahme von 11 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Am stärksten zugenommen haben laut dem Bundesamt für Statistik die Urteile wegen schwerer Körperverletzung, Raufhandel und Hinderung einer Amtshandlung. Letztere seien in den vergangenen neun Jahren um nahezu das Dreifache gestiegen.

Der deutliche Anstieg der Jugendurteile zeigt sich bei den männlichen Jugendlichen (plus 38.5 Prozent) und bei den weiblichen Jugendlichen (plus 32.7 Prozent). Am stärksten fällt die Zunahme bei den jüngsten Straffälligkeiten aus: Die Zahl der unter 15-Jährigen, die wegen einer Straftat gemäss Strafgesetzbuch verurteilt wurde, hat sich zwischen 2015 und 2023 um 60.2 Prozent erhöht.

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