Krisenmanagement Die Schweiz verheddert sich im Föderalismus

Von Gil Bieler

9.12.2020

Da war alles noch freundschaftlich: Bundesrat Alain Berset (M.) besuchte erst kürzlich den Kanton Baselland – hier mit Regierungsrat Thomas Weber im Bruderholzspital in Binningen. 
Da war alles noch freundschaftlich: Bundesrat Alain Berset (M.) besuchte erst kürzlich den Kanton Baselland – hier mit Regierungsrat Thomas Weber im Bruderholzspital in Binningen. 
Bild: Keystone/Peter Klaunzer

Soll der Bund für alle entscheiden – oder weiterhin jeder Kanton für sich? Das Hickhack in der Corona-Pandemie hat ein verwirrendes Ausmass angenommen. Baselland kritisiert nun sogar offen den Bundesrat.

Das Ziel ist klar: Das Coronavirus einzudämmen. Doch am Dienstag ist der Streit, wie das erreicht werden soll, neu entfacht worden: Kaum hatten mehrere Deutschschweizer Kantone weitergehende Massnahmen angekündigt, da wurden sie vom Bundesrat gleich wieder übersteuert. Und das alles innert weniger Stunden.

«Der Bundesrat muss das Heft wieder stärker in die Hand nehmen», erklärte Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga bei der abendlichen Medienkonferenz. Viele Kantone stiess der Bundesrat damit vor den Kopf: Die Regierung von Baselland etwa legt die erst am Dienstag beschlossenen eigenen Verschärfungen nun wieder auf Eis – man wolle verhindern, «dass widersprüchliche Entscheide von Bund und Kanton die Bevölkerung verunsichern», heisst es in einem Communiqué von heute.

Offene Kritik an Bundesrat

In einem Schreiben an den Bundesrat äussert Baselland unverhohlen Kritik: «Zuerst werden die Kantone aufgerufen, möglichst schnell kantonale Verschärfungen der Corona-Massnahmen zu beschliessen, die sie mit grossem Aufwand auch regional koordiniert haben, anderntags kündigt der Bundesrat anderslautende schweizweite Massnahmen an und ändert damit das Prozedere», hält der Regierungsrat fest. Er befürchte, «dass das Vorgehen des Bundesrats die föderalistische Zusammenarbeit in höchstem Mass gefährde».

Die Westschweizer Kantone sind ebenfalls sauer: Sie hatten als erste strenge Massnahmen ergriffen, am Donnerstag wollen Freiburg, Genf, Jura, Neuenburg und die Waadt – nach aktuellem Stand – wieder die Restaurants öffnen. Dass der Bundesrat erst vor die Medien trat, bevor er die Kantone befragte, stiess dem jurassischen Gesundheit- und Wirtschaftsminister Jacques Gerber besonders sauer auf.



Die Eigenheiten des föderalistischen Systems geben in der Pandemie immer wieder zu reden. Die Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich hat zu diesem Thema am Mittwoch ein Online-Seminar durchgeführt. Man müsse aufgrund der Pandemie jetzt nicht gleich das ganze Schweizer System infrage stellen, warnte KOF-Direktor Jan-Egbert Sturm. Im Allgemeinen funktioniert dieses nämlich gut. In Ausnahmesituationen wie der Pandemie zeigten sich aber auch Nachteile.

Sturm zog den Vergleich zwischen dem Krisenmanagement zwischen der ersten Infektionswelle im Frühling und der aktuellen zweiten Welle. In der ersten Welle – als noch die ausserordentliche Lage galt – sei der Bundesrat klar am Hebel gewesen. Heute müsse alles zwischen Kantonen und Bund abgesprochen werden. «Das kostet Zeit – und zwar in einer Lage mit exponentiellem Wachstum, in der jeder Tag zählt.»

Die Grafik zeigt, wie viele Coronavirus-Fälle pro 100'000 Einwohner in jedem Kanton gezählt werden.
Die Grafik zeigt, wie viele Coronavirus-Fälle pro 100'000 Einwohner in jedem Kanton gezählt werden.
Grafik Keystone

Da an dem Online-Seminar auch Experten aus Deutschland und Österreich teilnahmen, zeigte Sturm das Problem exemplarisch anhand der Weihnachtsverkäufe auf: Diese könnten erst ab dem 24. Dezember verboten werden, da dies in der Kompetenz der Gemeinden liege. «Viele Prozesse in der Schweiz entsprechen nicht denen, die in einer Pandemie nötig wären.»

Es ist nicht alles schlecht

Gleichzeitig entkräftete Sturm das oft gehörte Argument, man müsse regional auf das Virus reagieren. Er zeigte dabei die Entwicklung des sogenannten R-Werts auf, der zeigt, wie viele Menschen eine infizierte Person im Schnitt ansteckt: Obwohl seit dem Sommer jeder Kanton nach seinem eigenen Massnahmenplan verfährt, waren die Abweichungen beim R-Wert in den einzelnen Kantonen noch nie so gering wie im November.

Freilich haben auch Deutschland und Österreich föderalistische Strukturen – doch anders als in der Schweiz dominiere dort die Kooperation, während hierzulande eine Wettbewerbsmentalität vorherrsche, waren sich die Expert*innen einig. Das könne problematisch sein, wenn viele Kantone erst die Massnahmen ihrer Nachbarkantone abwarteten – und sich davon quasi gratis auch einen positiven Effekt im eigenen Kantonsgebiet erhoffen. 

Der Kantönligeist hat in der Pandemie also zweiffellos Schattenseiten. Wer sich nun aber nach einem starken Zentralstaat sehnt, für den hatte Monika Köppel-Turyna ernüchternde Erkenntnisse aus Österreich parat: Dort sei die Pandemie «fast zu zentral» gemanagt worden, erklärte die Direktorin des Wirtschaftsforschungsinstituts EcoAustria. Es gebe kaum regionale Massnahmen, obwohl die Länder die Möglichkeit dazu hätten. Und dennoch sind die Fallzahlen ähnlich hochgeschossen wie hierzulande. 

Zurück zur Startseite