«Mit Kanonen auf Spatzen» Schweizer Geheimdienst spioniert jetzt Tierschützer aus

tafi

1.12.2020

Die Tierschutzorganisation «269 Libération Animale», hier bei einer Protestveranstaltung 2017 in Lausanne, gilt seit Sommer als staatsgefährdend. Der NDB darf die Aktivisten nachrichtendienstlich überwachen.
Die Tierschutzorganisation «269 Libération Animale», hier bei einer Protestveranstaltung 2017 in Lausanne, gilt seit Sommer als staatsgefährdend. Der NDB darf die Aktivisten nachrichtendienstlich überwachen.
KEYSTONE/Laurent Gillieron

Der NDB stockt das Personal auf und erkennt eine neue Bedrohung für die Sicherheit der Schweiz: Seit Sommer stehen Tierschutzaktivisten auf der Beobachtungsliste des Schweizer Geheimdienstes.

Die einen kritisieren, es werde mit Kanonen auf Spatzen geschossen, andere befürchten eine Radikalisierung und Gewalttaten: Nach Recherchen vom «Tages-Anzeiger» baut der Inlandsgeheimdienst NDB seine Überwachungsaktivitäten massiv aus. Neu im Visier der Schweizer Staatsschützer: Eine Tierschutzorganisation, deren Aktionen vor Kurzem noch als «ziviler Ungehorsam» galten.

«269 Libération Animale», kurz «269 LA», nennt sich die Gruppierung von Tierrechtsaktivisten, die gemäss «Tages-Anzeiger» seit einigen Monaten auf der geheimen Beobachtungsliste des Nachrichtendienstes des Bundes (NDB) stehen. Sie befinden sich dort in Gesellschaft von Islamisten, Links- und Rechtsextremisten und werden als Bedrohung für die innere Sicherheit der Schweiz eingestuft.

Nach allen Regeln der Kunst ausspioniert

Auf Antrag von Verteidigungsministerin Viola Amherd habe der Gesamtbundesrat im vergangenen Sommer entschieden, «269 LA» auf die Beobachtungsliste zu setzen. Der NDB, der im Normalfall politische Aktivitäten im Inland nicht überwachen darf, kann seitdem «alle verfügbaren Informationen beschaffen und bearbeiten». Kurz gesagt: Die Tierschützer werden mit allen nachrichtendienstlichen Mitteln ausspioniert.



In der Tat erregte der Schweizer Ableger des 2016 in Frankreich gegründeten Bündnisses schon einmal Aufsehen. Im November 2018 besetzten etwa 130 Aktivisten einen Schlachthof im Kanton Solothurn. Die Polizei räumte das Gelände, 125 Personen sind bis dato per Strafbefehl zu bedingten Geldstrafen verurteilt worden. Auch für Sachbeschädigungen und Vandalismus gegen Metzgereien – vornehmlich in der Romandie – ist «269 LA» verantwortlich. Gewalt gegen Menschen ist bislang allerdings nicht bekannt.



Der NDB hatte «269 LA» zwar schon im jährlichen Lagebericht 2019 auf dem Radar, wertete die Aktionen, unter anderem die Schlachthofbesetzung, allerdings als «zivilen Ungehorsam» und bescheinigte der Organisation geringe kriminelle Energie. Auch der Bundesrat sah damals keinen Handlungsbedarf: «Nach einer zwischenzeitlichen Welle im Jahr 2018 hätten gewaltsame Aktionen wieder abgenommen», beruft sich der «Tages-Anzeiger» auf eine Interpellationsantwort der Regierung im Mai 2019.

Radikalisierung befürchtet

Eineinhalb Jahre später gelten die Tierschützer nun als Gefahr für die innere und äussere Sicherheit der Schweiz. Das stösst nicht überall auf Verständnis: Die Gruppe zeige zwar Missstände auf Schlachthöfen auf, und dabei komme es auch zu Sachbeschädigungen, sagt Grünen-Nationalrätin Meret Schneider im «Tages-Anzeiger». Aber von Gewalt gegen Menschen und andere Lebewesen distanziere sie sich. «Dass der Nachrichtendienst diese Gruppe überwacht, scheint mir daher sehr fragwürdig. Das ist mit Kanonen auf Spatzen geschossen.»



Anders sieht es Jacqueline de Quattro: Die ehemalige Sicherheitsdirektorin des Kantons Waadt sitzt für die FDP im Nationalrat und befürchtet, «dass gewaltbereite Personen die Tierrechtsorganisationen infiltrieren und sie radikalisieren oder Gewalttaten verüben». Dass der NDB dagegen vorgehe, sei legitim, solange es im Rahmen der Gesetze geschehe.

Bund will den NDB weiter ausbauen

Die Ausweitung der Tätigkeiten des Nachrichtendienstes kommt nicht von ungefähr. Innert zehn Jahren sind die Vollzeitstellen beim NDB um fast 50 Prozent gestiegen – von 237 im Jahr 2010 auf heute 350. In Zukunft soll der Personaletat noch weiter aufgestockt werden.



Bis 2023 will der Bundesrat 60 weitere Stellen schaffen. Das Projekt muss zwar noch vom Parlament bestätigt werden, die Finanzkommissionen von National- und Ständerat hätten sich aber bereits «oppositionslos» hinter das Vorhaben gestellt, wie der «Tages-Anzeiger» in Erfahrung gebracht haben will.

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