Politik gefordert Jedes fünfte Kind durch Armut gefährdet: Macht die Schweiz zu wenig für Familien? 

Von Julia Käser

3.9.2020

Pro Schulklasse sind in der Schweiz durchschnittlich ein bis zwei Kinder von Armut betroffen. 
Pro Schulklasse sind in der Schweiz durchschnittlich ein bis zwei Kinder von Armut betroffen. 
Bild: Keystone

Laut der UNICEF sind 19 Prozent der Schweizer Kinder armutsgefährdet. Durch die Coronakrise spitzt sich die Situation weiter zu – Familien drohen unter die Armutsgrenze zu fallen. Die Caritas sieht die Politik in der Pflicht.

Die Mutter, der das Geld fehlt, um ihren Kindern ein Mittagessen zu kochen. Der Junge, der friert, weil seine Jacke voller Löcher ist. Von Geld für eine Mitgliedschaft im Sportverein oder Ferien ist gar nicht erst die Rede. Auch ein Smartphone oder eine Fotokamera, um schöne Erinnerungen festzuhalten, liegen nicht drin. 

In der Schweiz sind rund 660'000 Menschen von Armut betroffen, wie Zahlen des Bundesamts für Statistik (BfS) von 2018 zeigen. Gemäss Caritas nahm vor allem die Kinderarmut in den letzten Jahren sprunghaft zu. Trotz Wirtschaftswachstum und rekordtiefer Arbeitslosigkeit habe sich die Anzahl armutsbetroffener Kinder 2018 nicht verringert.

Bedenklich: Die Zahl droht weiter anzusteigen – denn als armutsgefährdet gilt mittlerweile jedes fünfte Kind hierzulande. Das geht aus einer neuen UNICEF-Studie zum weltweiten Wohlbefinden von Kindern hervor. 

Mit 19 Prozent armutsgefährdeten Kindern liegt die reiche Schweiz zwar ungefähr im Schnitt der untersuchten Industriestaaten, aber deutlich vor anderen europäischen Ländern wie Dänemark, Irland und Deutschland. Selbst in Ungarn und Polen leben weniger armutsgefährdete Kinder. 

«Man muss davon ausgehen, dass Kinderarmut wächst»

Durch die Coronakrise spitzt sich die Situation für betroffene Familien nun weiter zu. «Wir stellen momentan fest, dass viele Familien, die sich bisher selbst über Wasser halten konnten, infolge von Kurzarbeit oder wegfallenden Stundenlöhnen schmerzhafte Einkommenseinbussen erlitten haben», sagt Caritas-Sprecher Stefan Gribi zu «Bluewin». 

Betroffene Familien hätten im Zuge der Krise ihre letzten finanziellen Reserven aufgebraucht und nun schlicht nicht mehr genügend Geld. Entsprechend verzeichne die Caritas seit April einen starken Anstieg an Anfragen um Hilfe und Unterstützung. 

«Wir haben rund 8'000 Personen mit finanzieller Direkthilfe unterstützt. Darunter sind viele Familien mit Kindern, insbesondere aber auch Alleinerziehende», so Gribi. Man müsse leider davon ausgehen, dass ein Teil dieser Familien längerfristig von Armut betroffen bleibe – und «somit auch die Kinderarmut wächst.»

Das ist besorgniserregend, denn schon heute gibt es in jeder Schulklasse durchschnittlich ein bis zwei armutsbetroffene Kinder. Armut hat für die Kinder schwerwiegende Folgen. Häufig fehlt selbst für kleine Dinge das Geld. 

Ergänzungsleistungen für Familien als wirksames Mittel

Auch armutsgefährdete Familien müssen sich laut Gribi häufig bereits stark einschränken – da sie nur knapp über der Armutsgrenze lebten. «Gesundes Essen, ein Ort, an dem man konzentriert die Hausaufgaben machen kann oder die Gelegenheit, regelmässig draussen zu spielen und dabei Wichtiges zu lernen – das sind alles keine Selbstverständlichkeiten.»

Gribi sieht die Politik in der Pflicht. Die Schweiz investiere weniger in Kinder und Familien als der Durchschnitt der europäischen Länder. Hohe Kinderkosten und tiefe Einkommen, mangelnde Möglichkeiten, Beruf und Familie zu vereinbaren sowie eine schlechte Absicherung im Falle einer Scheidung – all das sei mitverantwortlich für die prekäre Lage diverser Familien.

«Ein wirksames Mittel gegen Kinderarmut wäre die Einführung von Ergänzungsleistungen für Familien. In den Kantonen Waadt, Tessin, Genf und Solothurn gibt es dies bereits», sagt der Caritas-Sprecher. Die Erfahrung zeige, dass damit Familien vor der Sozialhilfe bewahrt und Kinderarmut reduziert werden könne. Auch höhere Prämienverbilligungen könnten Abhilfe schaffen, ist er sich sicher. 

Fest steht: Das Parlament wird nicht darum herumkommen, sich mit Kinderarmut und armutsbetroffenen Familien beschäftigen zu müssen. Aktuell warten zwei im Frühjahr eingereichte Vorstösse zum Thema darauf, vom Nationalrat beraten zu werden. 

Schweizer Kinder sind zufrieden

Generell ist die Lebenszufriedenheit von Schweizer Kindern höher als in anderen Industrieländern. Wie die repräsentative Untersuchung der UNICEF zeigt, rangiert die Schweiz punkto Wohlbefinden der Kinder auf Platz 4 – hinter den Niederlanden, Dänemark und Norwegen. Laut der Studie sind 82 Prozent der Mädchen und Buben mit ihrem Leben hier sehr zufrieden.

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