Neue AnsätzeKlimawandel und Corona rufen nach Anpassungen im öffentlichen Raum
sda/tafu
5.8.2020
Die Corona-Pandemie hat die Nutzung des öffentlichen Raums in Städten und Gemeinden stark verändert. Der Städteverband befürchtet, dass durch Corona für die Städte über eine Milliarde Franken an Ausfällen sowie zusätzliche Ausgaben entstehen.
Mit Beginn des Lockdowns kam das öffentliche Leben in den Innenstädten durch Geschäftsschliessungen und das Sperren von einzelnen Plätzen, Pärken und Flaniermeilen praktisch zum Erliegen. Der Bewegungsradius der Menschen wurde extrem eingeschränkt. Umgekehrt nahm das Leben in den Quartieren einen bis dato ungekannten Aufschwung.
Nach den Lockerungen des Lockdowns hätten vor allem Städte die durch Corona ermöglichten Sonderrechte der Behörden genutzt, stellt Urs Heimberg, Leiter des Fachbereichs Architektur bei der Berner Fachhochschule, fest. Ohne Konsultationen von Anwohnern und Interessengruppen seien beispielsweise Restaurationsbetrieben im öffentlichen Raum Flächen für Aussenbestuhlungen rasch und unbürokratisch zur Verfügung gestellt worden.
Neue Ansätze getestet
In der Westschweiz wurden in ähnlichen Verfahren dem dort überraschend boomenden Veloverkehr neue Flächen zu Lasten des motorisierten Verkehrs bereit gestellt. «Solche Verfahren dauern ansonsten mehrere Monate oder Jahre und müssen aufwändige Partizipations- und Beschwerdeprozesse durchlaufen», sagt Heimberg.
Im Zuge der schrittweisen Lockerungen sei es darum gegangen, ein «normales» Leben in den Städten wieder zu ermöglichen, erklärt Renate Amstutz, Direktorin des Schweizerischen Städteverbandes. Die Städte hätten schnell reagiert und auch neue Ansätze getestet. Vielerorts sei unbürokratisch mehr Platz für Pop-up-Restaurants und -Bars geschaffen worden. Vorübergehend begrünt wurde beispielsweise auch der ungenutzte Carparkplatz in Luzern.
Unübliche Massnahmen ergriff auch die Stadt Zürich: Für Wirte wurden im Aussenbereich befristete Gratisflächen geschaffen. Dem Pflegepersonal und anderen Personen, die in der Grundversorgung arbeiteten, stellte man temporär Parkplätze zur Verfügung. Geschäfte konnten für einmal Trottoirs als Warteraum für ihre Kundschaft nutzen.
In Bern wurden den Marktfahrenden über die Stadt verteilt mehr Flächen zur Verfügung gestellt. Um Menschenansammlungen zu vermeiden, entfernte die Stadt an stark frequentierten Plätzen teilweise Sitzgelegenheiten. Der Gemeinderat beschloss zudem im Mai, im öffentlichen Raum im Sommer neue Spielangebote für Kinder zu schaffen und zusätzliche Spielelemente bereit zu stellen.
Christoph Niederberger, Direktor des Schweizerischen Gemeindeverbands, bestätigt, dass vor allem städtische Gemeinden Massnahmen ergriffen haben, damit die Abstandsregeln besser eingehalten werden konnten. «Der öffentliche Raum hat sich mit diesen und anderen Anpassungen wie immer aufgrund sich verändernder Lebensgewohnheiten und Rahmenbedingungen weiter entwickelt», stellt Niederberger fest.
Zunehmende Mediterranisierung
Bereits vor Corona sei allerdings aufgrund des Klimawandels eine «zunehmende Mediterranisierung» festgestellt worden, heisst es beim Gemeindeverband. Der Trend, dass sich immer mehr Menschen immer öfters draussen aufhielten, könnte sich aber durch Corona noch verstärken, glaubt Niederberger.
Die in den vergangenen Jahren offensivere Nutzung des öffentlichen Raums wird von der Direktion für Tiefbau, Verkehr und Stadtgrün der Stadt Bern als «ein wesentliches Merkmal einer lebendigen, sozialen und ökologischen Stadt» bezeichnet. Die Coronakrise biete Städten längerfristig die Chance, eine gerechtere Verteilung des städtischen Raums zugunsten der Menschen zu erreichen.
Die Pandemie hat auch den seit ein paar Jahren feststellbaren Trend zum Gärtnern in der Stadt verstärkt. Die Wartelisten der Gartenvereine in der Stadt Zürich sind noch länger geworden. Auch in Bern gibt es aktuell keine freien Parzellen in Familiengärten mehr. Die Nachfrage sei mit Beginn der Coronakrise explosionsartig gestiegen, heisst es auf Anfrage.
Städtische Naherholungsgebiete, Wälder und Fitness-Parcours wurden während des Lockdowns stärker genutzt. Das zeigt laut dem Städteverband einmal mehr, wie wichtig genügend Grünflächen und Rückzugs- und Begegnungsmöglichkeiten in der Siedlungsentwicklung sind. Die Aufteilung des öffentlichen Raumes werde aufgrund der Klimaveränderungen und der Pandemie wohl zum Teil neu verhandelt werden müssen, sagt Amstutz.
Einig sind sich Städteverband und Gemeindeverband darin, dass die Nutzung des öffentlichen Raums von grosser Bedeutung für die Lebensqualität in Städten ist und dabei verschiedene, nicht immer konfliktfreie Ansprüche unter einen Hut gebracht werden müssen.
Krisenerprobte Modelle übernehmen
Amstutz geht davon aus, dass viele der jetzt kurzfristig eingeleiteten Massnahmen möglicherweise nur vorübergehend sind, auch weil die Gesetzesgrundlage für dauerhafte Projekte nicht überall gegeben sind. Modelle, die sich in der Krise bewährt hätten, würden aber in Zukunft rascher Akzeptanz finden.
Das glaubt auch Peter Schwehr, Leiter des Kompetenzzentrums Typologie & Planung in Architektur (CCTP) der Hochschule Luzern. Massnahmen, Strategien und Prozesse, die im Zuge der Corona-Bekämpfung verordnet und erprobt worden seien, lieferten wichtige Denkanstösse und Erfahrungen für die Gestaltung einer künftig postfossilen Welt und einer klimagerechten Stadt.
Schwehr nennt in diesem Zusammenhang Frischluftschneisen und Grünzonen, Wohnungen, die vielfältig genutzt werden können, um auf neue Situationen zu reagieren oder auch Quartiere, die nachbarschaftliches Handeln fördern.
Zusätzliche Kosten von über einer Milliarde
Wie hoch die zusätzlichen Corona-bedingten Kosten für notwendige Veränderungen im öffentlichen Raum für die Städte sein werden, lässt sich noch nicht genau beziffern. Eine frühe allgemeine Umfrage des Städteverbandes hat ergeben, dass sich die Ertrags- und Einnahmeausfälle der Städte sowie die zusätzlichen Ausgaben für das laufende Jahr auf insgesamt über 500 Millionen Franken belaufen.
«Das ist aber erst der Anfang. Viele Mitglieder des Städteverbandes konnten die finanziellen Konsequenzen noch gar nicht abschätzen. Ich befürchte deshalb, dass Corona die Städte allein 2020 deutlich über eine Milliarde Franken kosten wird», sagt Amstutz. Die finanzielle Lage der Städte werde sich aufgrund von Corona auch in den kommenden Jahren verschlechtern. Veränderungen im öffentlichen Raum müssten allerdings nicht zwingend besonders kostspielig sein.
Die Coronakrise belaste die Stadtfinanzen erheblich und verstärke den Handlungsdruck, der aufgrund der eingebrochenen Steuererträge bei juristischen Personen im Jahr 2019 sowie hoher anstehender Investitionen ohnehin bestehe, heisst es denn auch bei der Berner Direktion für Tiefbau, Verkehr und Stadtgrün. Unter diesen Umständen müsse die Stadt sämtliche Neuinvestitionen genau prüfen und abwägen.