Präsident der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz Ranghoher Katholik: «Wenn nötig, kritisiere ich meinen Papst»

Silvana Guanziroli

11.3.2019

Luc Humbel ist seit 2016 der höchste demokratisch gewählte Katholik in der Schweiz. Die Landeskirche ist in einem dualen System organisiert. Humbel ist für den staatsrechtlichen Bereich veranwortlich. 
Luc Humbel ist seit 2016 der höchste demokratisch gewählte Katholik in der Schweiz. Die Landeskirche ist in einem dualen System organisiert. Humbel ist für den staatsrechtlichen Bereich veranwortlich. 
Giorgio von Arb

Missbrauchskandale, Frauenfeindlichkeit und Kirchenaustritte – die katholische Kirche ist in Schwierigkeiten. In der Bluewin-Rubrik «Jetzt mal ehrlich» spricht Luc Humbel, der höchste demokratisch gewählte Katholik im Land, Klartext.

Der Aargauer Rechtsanwalt Luc Humbel steht seit 2016 an der Spitze der kantonalkirchlichen Organistationen der Schweiz. Als Präsident der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz ist er für die staatsrechtlichen Bereiche der Kirche verantwortlich. Vorab die Verwendung der Steuermittel, aber auch Austritte oder Beschwerden – das alles landet auf seinem Schreibtisch.

In Zeiten, in denen der Vatikan wegen des öffentlichen Drucks einen Anti-Missbrauch-Gipfel hat abhalten müssen, ist dies keine einfache Aufgabe. In seiner Kanzlei in Brugg AG stellt sich der Jurist, der als Opferanwalt im Vierfachmord von Fall Rupperswil ebenfalls in der Öffentlichkeit stand, den Fragen der «Bluewin»-Redaktoren.

Herr Humbel, vor zwei Wochen trafen sich die hohen Würdenträger in Rom zum Anti-Missbrauchs-Gipfel. Es wurde viel geredet, konkrete Massnahmen wurden aber keine beschlossen. Weltweit äusserten Opfer ihr Entäuschung. Was sagen Sie dazu?

In einem ersten Reflex bin auch ich enttäuscht. Ich verstehe jedes Mitglied der katholischen Kirche, das an der Institution zweifelt. Für mich ist die Erkenntnis, dass sich das System selber geschützt hat – und das auf Kosten der Schwächsten – der verheerendste Punkt dabei. Die Kirche hat durch diese Vorfälle massiv an Glaubwürdigkeit verloren. Und für eine Institution, die den Glauben als zentrales Element führt, ist das wirkliche eine schwierige Situation. 

Was heisst das in Konsequenz für die katholische Kirche im Allgemeinen und für die Landeskirche in der Schweiz im Besonderen?

Wir stehen vor einer riesigen Bewährungsprobe. Wir müssen diese verlorene Glaubwürdigkeit zurückgewinnen. In der Schweiz haben wir im Bereich der sexuellen Übergriffe unsere Hausaufgaben aber in weiten Teilen gemacht. Ich wage zu behaupten, dass wir hier weltweit führend sind: Bei jedem konkreten Verdacht erstattet die Kirche Anzeige und übergibt den Fall den Strafbehörden, wir haben Archive und Akten geöffnet, und wir haben einen Fonds eingerichtet, der auch Opfern, deren Fälle verjährt sind, einen Anspruch auf Entschädigung gewährt. 

In welchem Umfang ist bisher gezahlt worden?

Zwischenzeitlich wurde rund eine Million Franken überwiesen. Und wir haben noch längst nicht alle Fälle abgeschlossen. Für mich ist das der einzig richtige Weg. Wir nehmen uns allen Opfern an und sagen nicht einfach, dieser Fall geht uns nichts mehr an, weil er verjährt ist.

Ich bin mir aber im Klaren darüber, dass die Situation in Ländern, in denen der sexuelle Missbrauch durch Priester noch nicht einmal öffentlich thematisiert wird, eine völlig andere ist. Daher war der Gipfel in Rom wichtig. Schon nur um klarzustellen: Die Kirche ist weltweit vom Problem betroffen.

«Wir nehmen uns aller Opfer an und sagen nicht einfach, dieser Fall geht uns nichts mehr an, weil er verjährt ist.»

 
Luc Humbel, Präsident der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz

Haben Schweizer Bischöfe am Anti-Missbrauchsgipfel die Schweizer Massnahmen vorgestellt?

Von Bischof Felix Gmür weiss ich, dass er Begriffe wie Macht, männerdominiertes System und das Zölibat zum Thema gemacht hat. Damit hat er auf grundsätzliche Probleme hingewiesen.

Das Zölibat als Auslöser – was denken Sie darüber?

Als Jurist bin ich zurückhaltend mit der Zuweisung von Verantwortlichkeiten. Trotzdem kann ich sagen: Es ist für mich klar, dass der eingeengte Umgang mit der Sexualität innerhalb der Kirche mit den Missbrauchskandalen etwas zu tun hat. Begünstigt wurden sie durch ein Milieu, in dem man wusste, hier ist man relativ geschützt.

Angesicht der Probleme, der sich die katholische Kirche stellen muss – haben auch Sie bereits über einen Austritt nachgedacht?

Nein, noch nie. Ich bin davon überzeugt, dass man Veränderungen nur erreicht, wenn man sich involviert. Ich möchte nicht sagen, dass mich die jetzige Situation motiviert, aber es treibt mich um und an, etwas dagegen zu tun.

Aus Protest haben sechs prominente Frauen Ende 2018 der katholischen Kirche Schweiz öffentlich den Rücken zugekehrt. Das sind die früheren Nationalrätinnen Cécile Bühlmann (Grüne) und Ruth Gaby Vermot (SP), die ehemalige Zürcher Stadträtin Monika Stocker, die Theologinnen Regula Strobel und Doris Strahm sowie Anne-Marie Holenstein, die frühere Direktorin des katholischen Hilfswerks Fastenopfer. Sie alle begründen den Austritt mit einer zu frauenfeindlichen Kirche. Hat sie das getroffen?

Es hat mich schockiert, denn es waren gesellschaftlich stark engagierte Katholikinnen. Ich bedaure jeden Austritt, aber diese Austritte besonders. Die Art und Weise wie sie vollzogen wurden, war letzlich ein Angriff auf die Institution und ein lauter Vorwurf. Und hier müssen wir deutlich zuhören.

Ex-Nationalrätin Ruth Gaby Vermot (SP) hat Ende 2018 zusammen mit fünf weiteren prominenten Politikerinnen die Geduld  mit der katholischen Kirche verloren. Sie trat aus Protest gegen «den patriarchalen Machtapparat» aus der Institution aus.
Ex-Nationalrätin Ruth Gaby Vermot (SP) hat Ende 2018 zusammen mit fünf weiteren prominenten Politikerinnen die Geduld  mit der katholischen Kirche verloren. Sie trat aus Protest gegen «den patriarchalen Machtapparat» aus der Institution aus.
Bild: Keystone

Ist die katholische Kirche zu frauenfeindlich?

Ich sehe es so: Die katholische Kirche hat kein Frauenproblem, sie hat ein Männerproblem. Es gärt innerhalb der Institution, aber ich bin mir nicht sicher, ob das alle zuständigen und verantwortlichen Personen realisiert haben. Das ist ein Grund dafür, dass es schwierig ist, in der Frage vorwärts zu kommen. Ich für mich stelle fest: Bis heute konnte mir niemand schlüssig begründen, warum eine Frauenordination oder die Verheiratung von Priestern grundsätzlich nicht möglich sein soll. Im Kloster Fahr im Kanton Aargau, am Rand der Stadt Zürich, gibt es seit zwei Wochen eine neue Initiative. Der ganze Konvent des Benediktinerinnenklosters betet jeden Donnerstag dafür, dass Frauen innerhalb der Kirche die Position bekommen, die sie aufgrund ihres Einsatzes und ihrer Würde verdienen. Das gibt mir Kraft in der Frage.

Erleben wir noch eine katholische Priesterin, die eine Messe abhält?

Ich hoffe nicht allein deshalb, weil die Lebenserwartung so stark zunimmt. Im Ernst: Ja, ich glaube daran, wenn ich das nicht tun würde, wäre es für mich ein Problem.

Nicht nur prominente Personen treten aus der katholische Kirche aus. Was unternehmen Sie dagegen?

Wenn ein Kirchenmitglied schon seit Längerem eine Distanz zur Institution aufgebaut hat, dann ist es für mich nachvollziehbar, dass diese Missbrauchsfälle den letzten Schritt zum Austritt auslösen. Deshalb müssen wir die passiven Mitglieder stärker einbeziehen. Sie sind ja immer noch bereit, Kirchensteuern zu zahlen, es ist ihnen also noch immer etwas wert. Konkret heisst das: Wir müssen transparenter sein und darüber sprechen, wofür wir die Steuergelder verwenden. Tue Gutes und rede darüber, das ist nicht kirchlich geprägt. Aber wir müssen lernen, das zu tun. 

Und zu den Mitgliederzahlen will ich unbedingt noch anfügen. Es haben noch nie so viele Katholiken in der Schweiz gelebt wie heute. Zeigen Sie mir eine Organisation, die über drei Millionen Mitglieder ausweisen kann. Natürlich ist dies auch der Migration zu verdanken. Dennoch, die hohe Zahl ist ein Faktum. 

«Ich bin ein mündiger Gläubiger, und ich muss mich nicht dem Papst gegenüber verantworten, wie ich meinen Glauben lebe.»

 
Luc Humbel, Präsident der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz

Für viele junge Menschen ist die Kirche eher uncool. Wie wollen Sie die Jugendlichen erreichen? Freikirchen setzen etwa auf Party-Gottesdienste.

Pop-Gottesdienst sehe ich nicht als Rezept. Das ist für mich tendenziell zu populistisch. Die Glaubens-Heimat findet man nicht, in dem man am Sonntagmorgen ein poppiges Lied singt. Hier braucht es andere Lösungen.

Sie haben den Papst kritisiert. «Jede Abtreibung ist ein bestellter Auftragsmord» – diese Äusserung von Franziskus bezeichneten Sie als unhaltbar. 

Wenn er diese Aussage so getätigt hat, dann war sie verletzend – und das stört mich. Franziskus ist grundsätzlich in dieser Frage sehr differenziert, wahrscheinlich so differenziert wie noch kein Papst vor ihm. Aber es geht nicht an, dass er durch verkürzte und pointierte Aussagen andere verletzt. Auch wenn er mein Papst ist, darf ich das sagen. Ich weiss auch, dass die Bischöfe damit keine Mühe haben, ob Papst Franziskus damit Mühe hat, weiss ich nicht.

Sie hatten gar keine Reaktionen auf Ihre Äusserung?

Doch, selbstverständlich. Natürlich liess man mich wissen, dass es mir nicht anstehe, den Papst zu kritisieren. Aber das ist wieder dieser machtzentrierte Glaube, den ich nicht praktiziere. Ich bin ein mündiger Gläubiger, und ich muss mich nicht dem Papst gegenüber verantworten, wie ich meinen Glauben lebe. Ich stelle nicht seine Autorität in Frage, aber ich muss nicht immer der gleichen Meinung sein.

Papst Franziskus, Hoffnungsträger und oberster Hirte der katholischen Kirche.
Papst Franziskus, Hoffnungsträger und oberster Hirte der katholischen Kirche.
Bild: Keystone

Franziskus gilt seit seinem Amsantritt als Hoffnungsträger. Kann man sagen: Wenn es der katholischen Kirche unter ihm nicht gelingt, die Probleme zu lösen, wer soll es dann richten? Oder wird er diesbezüglich überschätzt?

Das ist schwierig zu beurteilen. Natürlich habe auch ich eine Euphorie verspürt, als ich seine ersten öffentlichen Voten vernommen habe. Heute allerdings hat man das Gefühl, dass er stärker kirchenpolitisch geprägt unterwegs ist und sich stärker am Machbaren und nicht am Wünschbaren orientiert. Aber so wie es überraschend gewesen ist, dass Franziskus überhaupt Papst wurde, so kann es auch ein zweites Mal zu einer Überraschung kommen. Aber ich will ihm nicht die ganze Last aufbürden, allein für die Zukunft der Kirche verantwortlich zu sein. Diese Verantwortung liegt bei allen Gläubigen.

Was ist der Trumpf der katholischen Kirche?

Das grösste Prädikat, welches die Kirche hat, ist Jesus. Er wäre in der heutigen Zeit definitiv ein Star. Er hat sich getraut, aufzubegehren, Missstände zu benennen – und ging als Vorbild voraus. Seine Botschaft bezüglich dem Umgang mit der Schöpfung oder einer solidarischen Gesellschaft ist aktuell: Es ist wichtig, dass sie in der Welt auch gehört wird.

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