Sieben Jahre nach ihrer Kandidatur für den Bundesrat übernimmt Marina Carobbio (SP/TI) das Zepter im Nationalrat. Als dessen Präsidentin will sich die Tessiner Sozialdemokratin vor allem für die Anliegen von Frauen und Minderheiten stark machen.
Die unermüdliche, streit- und unternehmungslustige 52-Jährige ist sich bewusst, dass sie während ihres Jahres als Nationalratspräsidentin eine andere Rolle einnehmen wird. "Ich werde lernen müssen, mich weniger in politische Auseinandersetzungen einzumischen, mehr über den Dingen zu stehen und alle Meinungen mit gleichem Respekt zu behandeln", räumte sie im Gespräch mit der Agentur Keystone-SDA ein.
Als höchste Schweizerin will sich Carobbio trotzdem auf zwei Themenbereiche fokussieren, die ihr besonders am Herzen liegen: die Vertretung der Frauen in der Politik und die Rolle der sprachlichen und kulturellen Minderheiten.
Die Politikerin ist seit über 11 Jahren Mitglied der Grossen Kammer. 2007 rutschte sie für Franco Cavalli in den Nationalrat nach. Vor sieben Jahren bewarb sie sich in ihrer Partei erfolglos um die Nachfolge von Micheline Calmy-Rey im Bundesrat. Auf dem Ticket landeten schliesslich Pierre-Yves Maillard und Alain Berset.
Eine neue Webseite
In der Wintersession will Carobbio eine neue Webseite zum Thema Frau und Politik aufschalten. Diese ist ausdrücklich der politischen Stellung der Frauen in Vergangenheit und Gegenwart gewidmet. Es brauche unbedingt mehr Frauen in der Politik, sagt die Nationalratspräsidentin 2018/19 mit Bestimmtheit.
Der Frauenanteil im Nationalrat liege bei lediglich 32 Prozent. Das seien 64 von 200 Mitglieder der Grossen Kammer. Gar nur 15 Prozent oder 7 von 46 Ständeratsmitgliedern seien weiblich. "Und in der Tessiner Kantonsregierung hat es gar keine Frau", beklagt sich Carobbio.
Was die Rolle der Minderheiten angehe, so werde sie sich darum bemühen, die Vielsprachigkeit in der Schweiz zu fördern. So werde das Verständnis in dem multikulturellen Land gestärkt. Insbesondere will die höchste Schweizerin jenen eine Stimme geben, die sonst kaum zu Wort kommen und wahrgenommen werden. Deshalb werde sie die Sitzungen des Nationalrats auch auf italienisch leiten.
Dem Tessin mehr Gehör verschaffen
Weiter möchte sie auch das Bild ihres Heimatkantons Tessin besser nach aussen tragen. "Das Tessin muss im Rest der Schweiz besser verstanden werden, insbesondere, was die Arbeitswelt und das Lohngefüge angeht."
Der Südkanton müsse seine Beziehungen in die Bundesstadt und zu den anderen Kantonen verbessern. "Es muss uns gelingen, neue Angebote zu lancieren zum Vorteil von wirtschaftlichen Sektoren, in denen wir stark sind, wie zum Beispiel in der Biomedizin." Das sei in erster Linie Sache des Tessiner Politpersonals, schiebt Carobbio nach.
Der Tessiner Blickwinkel ist immer ihr Mass, auch wenn sie seit elf Jahren unter der Bundeshauskuppel in Bern aktiv ist. Allerdings muss sie eingestehen, dass die Tessiner SP vier Monate vor den kantonalen Wahlen in einer Identitätskrise steckt. Die Partei muss sich für den 7. April 2019 neu erfinden und setzt dabei auf die Jungen und die Frauen für die Wahlen in die Kantonsregierung.
Aus dem Schatten des Vaters getreten
Marina Carobbio ist in einer Familie gross geworden, wo die Politik quasi zum Tagesgeschäft gehörte. Wer im Tessin Carobbio sagt, denkt immer noch zuerst an Werner Carobbio, an das Tessiner Urgestein und früheren Präsidenten der autonomen Sozialisten (PSA).
Doch Marina ist mehr als nur die Tochter einer lebenden Legende des linken Kampfes in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Ihr Vater sass schon im Nationalrat, als sie noch ein kleines Mädchen war.
Marina machte sich jedoch rasch einen Namen. Verheiratet mit einem Ingenieur, Mutter eines 22-jährigen Sohnes und einer 14-jährigen Tochter, ist sie bereits seit 2008 eine der Vizepräsidentinnen der SP Schweiz. Und obwohl sie seit 2007 im Nationalrat sitzt, hat sie sich daneben auch ein normales Berufsleben bewahrt.
Zusammen mit Bekannten teilt sie sich eine Arztpraxis in Roveredo in den Bündner Südtälern. Dort nimmt sie nun eine Auszeit bis Ende 2019, weil die Belastung mit dem Präsidialjahr in Bern sonst doch zu gross würde.
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