Rassismus «Meine Mutter sagte, mit meiner Herkunft muss ich mich doppelt beweisen»

Von Silvia Binggeli

16.6.2020

Leute demonstrieren gegen Rassismus auf den Strassen von Lausanne.
Leute demonstrieren gegen Rassismus auf den Strassen von Lausanne.
Bild: Keystone

Auf ihren «Chrusle» könne man ja Trampolin springen – mit solchen Sätzen ist Silvia Binggeli ständig konfrontiert. Die Ex-«Annabelle»-Chefredaktorin schreibt über den alltäglichen Rassismus, in der Schweiz und in den USA. Ein Gastbeitrag.

«Wohär chunnsch? Wahrscheinlich nicht von hier, gell?»

Die Frage wird mir gestellt, seit ich denken kann. Mein Vater war Westafrikaner. Meine Mutter ist Bernerin. Ich habe dunkle Haut und «Chrusle». Viele fassen mir unerlaubt ins Haar und sagen: «So lustig, darauf kann man Trampolin springen.» Oder sie fragen: «Bekommst du auch einen Sonnenbrand?»

Ich habe mich an die Fragen gewöhnt. Sie haben nichts mit den schlimmen rassistischen Ereignissen in den USA zu tun. Oder?

Zur Person
zVg/Flavio Leone

Silvia Binggeli war bis letzten Sommer Chefredaktorin bei der «Annabelle». Die Tochter einer Bernerin und eines Guineers lebte danach einige Monate in New York für ein Weiterbildungs-Sabbatical. Seit März ist sie zurück in Zürich.

Und doch: Ich erinnere mich an eine Aussage, die meine Mutter machte, als ich zwölf Jahre alt war. Ich sollte ins Untergymnasium wechseln, was ich partout nicht wollte. Meine Mutter griff zu einem Überzeugungsargument, das mich damals wütend machte und verletzte. Sie sagte: «Mit deiner Herkunft musst du dich doppelt beweisen.»

Sie hat recht: Meine Hautfarbe bewirkt bei anderen nicht nur interessierte Fragen zu meinem Äusseren. Sie bringt auch Vorurteile, Beleidigungen und Abwertung mit sich: «Mohrenkopf, geh zurück in den Busch!», hörte ich als Kind. Später, als junge Frau, wurde ich am Zoll öfter kontrolliert, sobald ich meine Haare in Zöpfchen geflochten trug. Und gefragt: «Führen Sie Drogen mit?»

Männer sagten zu mir: «Dich hätte ich gerne zur Freundin, du bist so schön exotisch.» Zusatz zum vermeintlichen Kompliment: «Sicher auch im Bett.»

Sind diese Reaktionen wirklich so weit entfernt von der Rassismus-Debatte in den USA?



Das vermeintlich marginale Problem

Ich interessiere mich für die Geschichte der Afroamerikaner, seit ich als junge Frau in San Francisco studiert habe. Es war schön, mich in der kulturell durchmischten Gesellschaft der Stadt zu bewegen. In Gesprächen mit schwarzen Kommilitoninnen und aus Büchern lernte ich allerdings schnell, dass Schwarze mitnichten dieselben Chancen in dieser Gesellschaft geniessen: Bis in die 1960er-Jahre durften sie nicht dieselben Schulen besuchen wie Weisse, nicht auf denselben Busbänken sitzen. Die Bürgerrechtsbewegung hat dazu geführt, dass die Rassentrennung abgeschafft wurde – Hundert Jahre nach Aufhebung der Sklaverei!

In der Folge feierten wir die ersten schwarzen Oscarpreisträger und -trägerinnen, den ersten afroamerikanischen Präsidenten im Weissen Haus; und fragten uns zu wenig, warum das eigentlich noch eine derartige Errungenschaft darstellte.

Demonstranten in Los Angeles.
Demonstranten in Los Angeles.
Bild: Keystone

Rassismus schien für viele Weisse ein marginales Problem zu sein. Bis nun ein weisser Polizist vor unseren Augen einen Schwarzen so lange mit dem Knie am Genick auf den Boden gedrückt hat, bis er gestorben ist: George Floyd. Er ist kein Einzelfall. Wir nennen seinen Namen. Wir sind schockiert. Doch das reicht nicht. Wir müssen hinsehen, zuhören, verstehen und umdenken.

Ich bin betroffen

Unter anderem der grossartige Dokumentarfilm «Der 13.» der afroamerikanischen Regisseurin Ava DuVernay zeigt auf, wie ein tief verankerter Rassismus in Amerika ein Polizei- und Justizsystem hervorgebracht hat, das Schwarze systematisch kriminalisiert. In Talkrunden erfahren wir im Zuge der weltweiten Proteste, wie schwarze Eltern mit ihren Söhnen in Amerika ganz selbstverständlich und schon früh «The Talk» führen, ihnen einbläuen, der Polizei aus dem Weg zu gehen, selbst wenn sie sich völlig korrekt verhalten.



Ich bin betroffen – nicht nur vom schrecklichen Mord an George Floyd. Sondern auch von dem Wertesystem, das dazu führen konnte. Und mit dem auch wir hier uns auseinandersetzen müssen. 

Stolz auf die Herkunft

Ganz klar: Ich bin stolz auf meine Herkunft. Ich begegne unzähligen Menschen, die mich respektieren als die Person, die ich bin, die mir Komplimente machen für meine Haare oder meine Hautfarbe, einfach, weil sie sie schön finden. Ernsthaft interessierte Fragen zu meinem Äusseren stören mich nicht, selbst wenn das Gegenüber dabei einmal in ein stereotypes Fettnäpfchen tritt. Das passiert mir selber bei anderen auch. Dann bin auch ich froh, wenn ich ohne übertriebene Vorwürfe auf meine Unsensibilität hingewiesen werde. Aber dann erwarte ich von mir und anderen auch, dass sie ihr engstirniges Denken korrigieren.



Rassistisch ist nicht das Interesse am Fremden. Rassistisch ist die abwertende Konnotation, die im Kopf automatisch entsteht, sobald man einen Menschen mit dunkler Hautfarbe sieht. Möge die Wertung noch so unbewusst und leise passieren. Möge sie noch so sorglos weitergetragen werden, in Form eines diskriminierenden Begriffs etwa, der für die Jahrhunderte lange Unterdrückung einer ganzen Menschengruppe steht: Eine solche Wertung ist rassistisch und falsch.

Auch hier. Auch bei uns. Wer im Tram immer noch lieber steht, als sich neben einen schwarzen Fahrgast zu setzen, muss umdenken. Jetzt!

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