Als Blinder in der Coronakrise«Sie sagte, dass sie mich nicht berühren darf»
Von Jennifer Furer
16.8.2020
Für blinde und sehbehinderte Menschen ist die Coronakrise eine besondere Herausforderung. Gerd Bingemann sagt, wie er mit der Abstandsregel umgeht und wieso er ein Fitnessstudio mit blauen Flecken verlassen hat.
Gerd Bingemann steht am Bahnsteig im Zürcher Hauptbahnhof. In der Hand hält er einen weissen Stock. Sein Gesicht ist freundlich. Es wirkt, als schwebe er in Gedanken. Die Augen sind auf den Boden gerichtet. Als der Zug einfährt und Bingemann sich in dessen Richtung bewegt, ist zu erkennen, dass der Mann mit kurzen weissen Haaren blind ist.
Mit seinem Langstock ertastet Bingemann erst die Gleiskante, dann die Türe. Er steigt in den Zug ein und erfühlt sich mit seinen Händen und dem Stock den Weg zu einem Sitzplatz. «Ist hier noch frei?» Niemand antwortet. Ein Zeichen, dass Bingemann, der seit zehn Jahren blind ist, sich wohl setzen kann.
Sicherheitshalber tastet er den anvisierten Sitz zuerst ab, bevor er sich schliesslich hineinfallen lässt. «Ohne diese Absicherung bin ich nämlich einmal auf den Schoss eines überaus schweigsamen Passagiers gesessen», meint er schmunzelnd. Mit schon auf dem Perron aufgesetzter Hygienemaske mag er sich dem Rattern des Zuges nicht allzu lange hingeben und zückt daher seinen Player, um via Kopfhörer ein Audiomagazin zu lesen.
Schwierigkeiten in unverhofften Situationen
Hören und tasten: Das sind jene Sinne, auf die sich der 59-Jährige verlassen muss, wenn er sich alleine fortbewegen möchte. «Aber auch auf meine Ohren ist nicht immer Verlass», sagt der Mann mit einer sanften und anregenden Stimme. Seit einigen Jahren ist eine Hörbehinderung der Grund dafür, dass Bingemann nicht mehr mit Sicherheit einordnen kann, woher ein Geräusch stammt.
Das sei zuweilen nicht nur peinlich, sondern kann durchaus gefährlich werden, meint der passionierte Musiker – beispielsweise, wenn er die Strasse überqueren möchte. «Ich merke dann manchmal nicht, woher ein Auto kommt.»
Schwierigkeiten habe der in Wil SG wohnhafte Mann auch, wenn ihn unverhofft eine fremde Person anspreche – etwa, weil ihn seine Ehefrau Ursula beim Einkaufen kurz aus den Augen lässt, die Situation sich dann aber ändert, sodass er auf einmal anderen Leuten im Weg steht.
«Da kommt es manchmal zu unangenehmen Situationen, weil ich gar nicht realisiere, dass jemand «im Corona-Abstand» zu mir spricht. Und wenn ich es dann verstehe, weiss ich oft nicht, woher die Stimme kommt», sagt Bingemann.
Es sei jeweils auch schwierig, herauszuhören, wohin er sich in einer Warteschlange stellen müsse. «Die Leute sind es sich nicht gewohnt, sich diesbezüglich präzis auszudrücken und klare Anweisungen zu geben.»
Vor Corona hätten die Menschen sich dann oftmals ihm zugewandt, seien näher gekommen und hätten ihn in manchen Fällen am Arm angefasst, um ihm den Weg zu weisen. «Jetzt ist das schon etwas anders», sagt Bingemann etwas nachdenklich. Die Leute würden sich ihm wegen der Abstandsregel von 1,5 Metern und einer möglichen Ansteckungsgefahr zögerlicher nähern – oder zumindest weniger schnell und unbekümmert.
Trotzdem: «Ich habe nicht das Gefühl, dass mir jetzt niemand mehr hilft.» Im Gegenteil: Auch heute noch gebe es viele Leute, die sein Hilfsbedürfnis erkennen und ihm durch eine Flaschenhalssituation helfen würden. «Mir geht das Herz auf, wenn mir jemand beherzt und intuitiv seinen Ellbogen hinstreckt und mich führt», sagt Bingemann demütig.
Flipperball im Fitnesszentrum
Was tun, wenn jemand die Abstandsregeln nicht einhalten kann? Mit dieser Frage müssen sich nicht viele Menschen beschäftigen. Das stellte Bingemann fest, als er nach dem Lockdown zum ersten Mal ins Fitnesszentrum ging, welches er in der Regel zweimal pro Woche besucht.
«Ich darf dich leider nicht berühren», habe eine Fitnessinstruktorin zu ihm gesagt. «Wir müssen einen anderen Weg finden, dich zum Crosstrainer zu führen.» Wie ein Flipperball sei Bingemann zwischen den Geräten hindurchgelaufen – immer der Stimme der Fitnessinstruktorin folgend, die genau beschreiben musste, wohin Bingemann gehen sollte.
«Weil sich diese Methode als zu ungenau entpuppte, habe ich mich links und rechts an den Geräten gestossen», sagt der schlanke und gross gewachsene Bingemann. Beim gesuchten Gerät angekommen, habe er sicher einige blaue Flecken gehabt.
Nicht nur einer körperlichen Versehrtheit ist Bingemann durch Corona zusätzlich ausgesetzt, sondern auch einer erhöhten Ansteckungsgefahr durch das Coronavirus. Denn er selbst kann nicht entscheiden, wie viel Abstand er zu anderen Menschen einnimmt – ob er die Wände des Zugwaggons oder Menschen anfasst, die ihm helfen, sich zu orientieren.
«Ja, blinde Menschen sind vermutlich einem höheren Risiko ausgesetzt», sagt der 59-Jährige nachdenklich. «Mir nimmt mein Glaube an Gott die Angst vor einer Erkrankung.» Dadurch getraue er sich auch, einmal mehr das Haus zu verlassen als andere blinde Menschen oder solche mit Hörsehbehinderung.
Am Rande der Gesellschaft
Bingemann stellt fest, dass die Coronakrise dafür gesorgt hat, dass Menschen mit Beeinträchtigungen, die sich sowieso schon am Rande der Gesellschaft befinden, vermehrt isoliert worden sind. «Gerade für alleinstehende blinde oder sehbehinderte Menschen oder solche, die in Heimen wohnen, sind die Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie oftmals schwierig.»
Diese seien sich zwar gewohnt, mehr Organisationsaufwand betreiben zu müssen, wenn sie irgendwohin möchten – aber: «Da das Ganze jetzt noch komplizierter wurde und man sich auf einen gewissen gleichbleibenden und somit eingeengten Personenkreis konzentrieren muss, ist dies während der Krise entsprechend schwieriger.» Weil man den Menschen in der Umgebung nicht zu viel Umstände machen will, sei die Gefahr, sich zu isolieren, umso grösser.
Homeoffice für blinde Menschen
Für blinde Menschen, die selbstständig tätig sind, könne die Coronakrise besonders hart sein, meint Bingemann. Seine Stimme wird etwas leiser und nimmt fast schon einen melancholischen Ton an.
Zusätzlich zur Herausforderung, mit der Selbstständigkeit zurechtzukommen, hätten blinde Menschen Nachteile, wenn sie sich beispielsweise nach dem Konkurs ihrer Physiotherapiepraxis für eine Festanstellung bewerben müssten, auf die sich auch Normalsehende melden könnten.
Bingemann selbst sei zum Glück nicht in dieser Lage. Er arbeitet in einem 80-Prozent-Pensum für den Schweizerischen Zentralverein für das Blindenwesen (SZBLIND), die Dachorganisation dieser Branche.
Einen Tag habe er ohnehin bereits im Homeoffice gearbeitet, weshalb ihm die Umstellung im Lockdown keine Probleme bereitet habe. Auch hier habe er sich mit seinen persönlichen Rahmenbedingungen sogar glücklich schätzen können, wie er selbst sagt.
«Wir können meistens nicht einfach improvisieren»
«Bei blinden oder sehbehinderten Menschen müssen die Einstellungen beim Computer für dessen Blindbedienung genau stimmen.» Sonst fehle die Orientierung darüber, was auf dem Bildschirm gerade vor sich geht. «Wir können meistens nicht einfach improvisieren, rasch etwas ausprobieren und dann schauen, ob es funktioniert», so Bingemann. Auch hier seien Kontaktpersonen, die einem bei Problemen weiterhelfen könnten, essenziell, betont der Ostschweizer.
Ursi, sie ist Bingemanns Perle. «In solchen Krisen lernt man sein eigenes Glück noch mehr zu schätzen», sagt er. Die beiden seien während der Coronakrise viel in der Natur gewesen. «Ich konnte mich dem Vogelgezwitscher und den Geräuschen der Bäche hingeben.»
Stille: Die habe er vorher immer wieder vermisst, so Bingemann. Die Coronakrise habe sie ein Stück weit zurückgebracht. «Alles ist während der Pandemie etwas ruhiger und gemächlicher geworden», sagt Bingemann, der seine Kopfhörer für das Gespräch lautlos gestellt hat. Gerade für hörbehinderte Menschen bringe dies viel Lebenswertes.
«Obwohl ich ein passionierter Musiker bin, stören mich hohe Lautstärken und Lärm», sagt Bingemann. Er möge es weniger gut vertragen, weil Lärm ihn ablenke und viel schneller ermüde als noch mit gesundem Gehör.
Das Geniessen der Stille sei denn auch der Grund gewesen, wieso Bingemann das Leben vor Corona gar nicht so sehr vermisst habe. «Ich konnte nicht mehr an Gottesdienste, an Bandproben, Auftritte oder gesellschaftliche Anlässe gehen.»
Das habe ihm gar nicht viel ausgemacht. «Überraschenderweise habe ich es nicht einmal wirklich vermisst. Ich genoss die Zeit mit meiner Frau und mit mir allein», sagt Bingemann.
Das Rattern des Zuges wird leiser. Bingemann räumt seinen Player in den Rucksack, zückt sein Stock und steht auf. Er ertastet sich seinen Weg zum Ausgang des Zuges.
Herausforderung für Blinde in der Coronakrise
Für die Interessen von blinden und sehbehinderten Menschen setzt sich nebst dem Schweizerischen Zentralverein für das Blindenwesen (SZBLIND) auch der Blinden- und Sehbehindertenverband SBV ein. Martin Abele ist dort Bereichsleiter Interessenvertretung. Er sagt, dass sich in der Coronakrise einige zusätzliche Schwierigkeiten für blinde oder sehbehinderte Menschen gestellt haben.
«Für viele Menschen mit starker Seheinschränkung sind die im Rahmen der Coronakrise verordneten Einschränkungen und Vorschriften eine grosse Belastung», sagt Abele. Viele, vor allem ältere und allein lebende Personen, fühlten sich verunsichert, in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt und zum Teil isoliert.
Stress und Unsicherheit
Besonders schwierig sei die Phase während des Lockdowns gewesen, als allein lebende Betroffene zum Teil in ihrer Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt waren. Zudem könnten blinde Menschen die Abstandsregeln nicht einhalten, so Abele. «Dies konnte Stress und Unsicherheit unterwegs auslösen.» Sonst bekannte Wege seien fremd geworden und die Geräusche von anderen Personen im näheren Umfeld verunsicherten.
Viele Blinde haben wegen des erhöhten Ansteckungsrisikos, weil sie sich durch Taste orientieren müssen, zudem grosse Hemmungen, die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen, was wiederum dazu führt, dass ihr Radius und ihre Alltagsgeschäfte einschränken.
Personen im Laden einschätzen
«Schwierig sind auch die quantitativen Limiten, die in vielen Geschäften, Badeanstalten und anderen viel besuchten Orten gelten», sagt Abele. Menschen mit einer Seheinschränkung könnten kaum einschätzen, wie viele Personen schon in einem Laden sind.
«Problematisch sind auch verschiedene Massnahmen, die die Kommunikation erschweren. Bei vermindertem Sehvermögen erhält der Hörsinn eine grössere Bedeutung», sagt Abele. Deshalb seien Masken für Sehbehinderte eine zusätzliche Hürde, weil sie ihr Gegenüber weniger gut verstehen.
Problem ÖV: Vordere Tür zu
Sehr ungünstig für sehbehinderte Menschen sei die Massnahme der Verkehrsbetriebe, die vorderste Türe geschlossen zu halten. «Blinde und sehbehinderte Menschen warten in der Regel bei der vordersten Tür auf den Bus oder ein anderes Fahrzeug des öffentlichen Verkehrs», sagt Abele. Diese Stelle werde ihnen durch eine Einstiegsmarkierung am Boden angezeigt.
Mit vielen Verkehrsbetrieben hätten kulante Lösungen gefunden werden können. «Es gibt aber leider auch immer noch Busbetriebe, wo die Betroffenen eine hintere Türe aufsuchen müssen.» Problematisch sei auch, dass ihnen so verwehrt wird, sich beim Chauffeur zu erkundigen, ob es der richtige Bus ist.
Smartphone als Verbindung zu aussen
Bei den meisten Verkehrsbetrieben sei nach wie vor die vorderste Sitzreihe abgesperrt. «Dies ist im Normalfall der Platz, auf welchem Personen mit Sehbehinderung mitreisen», sagt Abele. Durch die Sperrung müsse nun im hinteren Teil des Fahrzeugs ein Sitzplatz gesucht werden.
«Glücklicherweise zeigt sich das Fahrpersonal häufig hilfsbereit und unterstützt bei der Sitzplatzsuche.»
Nichtsdestotrotz gebe es auch
positive Seiten, so Abele. «Dank technischer Hilfsmittel sind immer mehr Menschen in der Lage, trotz Seheinschränkung den Alltag selbstständig zu meistern.»
So habe beispielsweise das Smartphone während des Lockdowns die Brücke zur Aussenwelt dargestellt. «Es wurde fleissig kommuniziert, und über WhatsApp-Gruppen wurden Rezepte, Alltagstipps sowie Gedanken und Erlebnisse ausgetauscht.»