Lebenslange Verwahrung «Mit mehr Konsequenz hätte man Opfer vermeiden können»

Von Philipp Dahm

7.10.2020

Strafanstalt Pöschwies in Regensdorf – Aussicht aus dem Haus Lägern, wo Verwahrte untergebracht sind.
Strafanstalt Pöschwies in Regensdorf – Aussicht aus dem Haus Lägern, wo Verwahrte untergebracht sind.
Archivbild: Keystone

Die Verwahrungsinitiative von 2004 hat für viele Diskussionen gesorgt, doch heute vor zehn Jahren wurde das bisher einzige Urteil «Lebenslange Verwahrung» gefällt. «blue News» sprach mit dem Richter von damals.

Das Verbrechen, das den Anstoss zur Verwahrungsinitiative gegeben hat, ist 27 Jahre her: Während eines unbegleiteten Hafturlaubs tötete der wegen mehrfacher Vergewaltigung verurteilte Sträfling Erich Hauert die 20-jährige Pfadfinderführerin Pasquale Bruman.

Der Mord am Zollikerberg in Zürich schockierte die ganze Nation, mündete in einer Verschärfung der Regeln für Hafturlaube und Entlassungen und führte zu einem Anstieg der Verwahrungen. Die gleichwohl angestrengte Verwahrungsinitiative wurde im Februar 2004 mit einem Volksmehr von 56,2 Prozent und einem Ständemehr in 21,5 Kantonen angenommen.

Heute vor zehn Jahren kamen die in der Bundesverfassung neu verankerten Regeln erstmals zum Zuge: Der Thurgauer Bezirksrichter Pascal Schmid verurteilte den sogenannten Callgirl-Mörder Mike A. zu lebenslänglicher Verwahrung. Der 50-Jährige hatte im August 2008 in Märstetten TG eine thailändische Prostituierte getötet.

Was sagt der Richter von damals?

Weil der Täter seinen Rekurs am Obergericht zurückgezogen hat und die Strafe somit rechtskräftig ist, bleibt das Urteil die bisher einzige gültige lebenslange Verwahrung in der Schweiz. «blue News» hat beim damaligen Richter Pascal Schmid nachgefragt, wie er den Stand des neu eingeführten Strafmasses beurteilt.

Pascal Schmid im Rathaussaal von Weinfelden: Der Gerichtspräsident sprach am 7. Oktober 2010 die bisher einzige lebenslange Verwahrung aus, die Bestand hat.
Pascal Schmid im Rathaussaal von Weinfelden: Der Gerichtspräsident sprach am 7. Oktober 2010 die bisher einzige lebenslange Verwahrung aus, die Bestand hat.
Bild:  Donato Caspari/St. Galler Tagblatt

Welches Fazit ziehen Sie zur Einführung der lebenslangen Verwahrung?

Die Volksinitiative wurde 2004 deutlich angenommen, das Gesetz trat 2008 in Kraft. Es ist die Aufgabe der Justiz, das geltende Recht anzuwenden. Das Schweizer Volk hat klar zum Ausdruck gebracht, dass nicht therapierbare, extrem gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter bis ans Lebensende verwahrt werden sollen, um die Öffentlichkeit besser zu schützen. Jedes missbrauchte, vergewaltigte oder getötete Opfer ist eines zu viel. Der Umgang mit solchen Tätern war früher viel zu wenig streng.

Wieso?

Nehmen Sie den Fall, den wir vor zehn Jahren zu beurteilen hatten. Der Täter wurde in den 1990er-Jahren zweimal wegen Vergewaltigung verurteilt, es gab damals vier Opfer. Für mich ist es bis heute unverständlich, warum man damals nicht durchgegriffen hat.

Was geschah stattdessen?

Stattdessen wurde er zu dreieinhalb und dann zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt und kam beide Male nach zwei Dritteln der Strafe wegen guter Führung wieder frei. Am Ende waren es sechs Opfer, eine getötete Frau und fünf Frauen, die von ihm vergewaltigt, schwerst sexuell genötigt oder lebensgefährlich verletzt wurden. Eine schreckliche Bilanz. Mit etwas mehr Konsequenz hätte man die beiden letzten Opfer, also unseren Fall vor zehn Jahren, vermeiden können.

Die Verwahrungsinitiative wollte erreichen, dass gefährliche Täter für immer weggesperrt werden können. Wie geht das zusammen mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)?

Es war nicht an uns, das zu entscheiden. Die Frage stellt sich erst, wenn der Täter seine (der Verwahrung vorangehende) 20-jährige Freiheitsstrafe abgesessen hat. Möglich, dass er sich zu wehren versucht, wenn eine Entlassung aus der lebenslänglichen Verwahrung verweigert wird. Der Konflikt zwischen Bundesverfassung und EMRK, die ja nicht über der Verfassung steht und über die das Volk auch nie abgestimmt hat, müsste sich aber lösen lassen. So sah es damals auch der Bundesrat in seiner Botschaft.

Sie haben die Verwahrungsinitiative angestossen und durchgedrückt: Doris Vetsch und Anita Chaaban (rechts) werden im September 2004 in Zürich mit dem «Prix Courage» ausgezeichnet.
Sie haben die Verwahrungsinitiative angestossen und durchgedrückt: Doris Vetsch und Anita Chaaban (rechts) werden im September 2004 in Zürich mit dem «Prix Courage» ausgezeichnet.
Bild: Keystone

Wie lässt sich der Konflikt zwischen EMRK und Schweizer Gesetz lösen?

Indem eine Überprüfung nur, aber immerhin dann erfolgt, wenn neue wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen. Darunter sind alle neuen Erkenntnisse zur Therapierbarkeit des Täters zu verstehen, also objektive und subjektive. Das schliesst nicht nur neue Therapiemethoden, sondern auch neue Erkenntnisse aufgrund von Veränderungen des Täters mit ein.

Wie erklären Sie sich, dass das Bundesgericht, abgesehen von dem Fall vor zehn Jahren, noch jede Verurteilung zu Lebenslänglich kassiert hat? Sind die Hürden zu hoch?

Ganz klar zu hoch. Das Bundesgericht verlangt zwei psychiatrische Gutachten, die den Täter bis an sein Lebensende als nicht therapierbar einstufen. Diese Anforderung steht so nicht im Gesetz, geschweige denn in der Verfassung. Kein Psychiater wird eine Prognose bis ans Lebensende wagen. Eine Prognose für die nächsten 20 Jahre muss reichen. Im Gesetz steht auch nicht, dass die beiden Gutachter gleicher Meinung sein müssen. Sagt ein Gutachter, der Täter sei dauerhaft nicht therapierbar, und ist der andere etwas zurückhaltender, dann müssen wir Richter entscheiden. Wir tragen die Verantwortung und dürfen diese nicht auf die Psychiater abschieben. Im Gegensatz zu den Bundesrichtern müssen wir den Opfern und ihren Angehörigen dabei in die Augen schauen.

Was sind die Auswirkungen dieser hohen Hürden des Bundesgerichts?

Nach meinem Verständnis von Gewaltenteilung müssen die Gerichte die Gesetze so anwenden, wie sie Volk und Parlament beschlossen haben. Nicht so, wie es ihnen besser passt. Mit der viel zu restriktiven Auslegung des Bundesgerichts wird die lebenslängliche Verwahrung zum toten Paragrafen. Der Volkswille wird damit ausgehebelt.

Noch ein Ausblick aus der Strafanstalt Pöschwies in Regensdorf im Kanton Zürich.
Noch ein Ausblick aus der Strafanstalt Pöschwies in Regensdorf im Kanton Zürich.
Archivbild: Keystone

Eine Studie hat 2017 nachgewiesen, dass bereits bei ordentlicher Verwahrung in der gesamten Schweiz die wenigsten Häftlinge vorzeitig entlassen werden. Wie wichtig ist die lebenslange Verwahrung für die Justiz in der Praxis?

Die lebenslängliche Verwahrung ist viel strenger, nicht nur beim Entlassungsprozedere, sondern auch im Vollzug. Das Sicherheitsnetz ist generell enger geknüpft. So sind zum Beispiel Hafturlaube und unbegleitete Ausgänge bei der lebenslänglichen Verwahrung verboten, bei der ordentlichen Verwahrung hingegen erlaubt. Dort ist auch eine direkte Entlassung in die Freiheit möglich, die bei der lebenslänglichen Verwahrung ist das selbst bei neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen ausgeschlossen. Es findet zunächst nur ein Übertritt in eine stationäre Massnahme statt. Über eine Entlassung entscheidet bei der ordentlichen Verwahrung zudem die Vollzugsbehörde hinter verschlossenen Türen, bei der lebenslänglichen Verwahrung ein Gericht in einer öffentlichen Verhandlung. Damit wird die nötige Transparenz geschaffen.

Wie wichtig ist die lebenslange Verwahrung für Genugtuung für die Opfer und ihre Familien?

Kein Gerichtsurteil kann den Tod des eigenen Kindes, der Tochter, der Partnerin, der Ehefrau, der Freundin wieder gut machen. Die Gewissheit, dass der Täter nicht noch einmal töten oder vergewaltigen kann, dürfte bei der Bewältigung aber helfen.

Wie wichtig ist die lebenslange Verwahrung als Instrument der Justiz?

Sie ist ein Instrument unter vielen. Zugeschnitten auf hochgefährliche, stark rückfallgefährdete Täter. Der Staat trägt hier eine riesige Verantwortung. Er muss seine Bürgerinnen und Bürger wirksam schützen. Sicherheit und Opferschutz haben oberste Priorität, nicht das Wohl des Täters. Das war 2004 die klare Botschaft des Schweizer Volkes an die Justiz.

Transparenz: Das Interview wurde schriftlich geführt.

Zurück zur Startseite