Umstrittene Liefer-App Migros will Nachbarschaftshilfe fördern – und erntet auch Kritik

Von Julia Käser

25.3.2020

Nachbarschaftshilfe ist in Zeiten des Coronavirus wichtiger denn je. 
Nachbarschaftshilfe ist in Zeiten des Coronavirus wichtiger denn je. 
Bild: Keystone

Zu Zwecken der Nachbarschaftshilfe belebt die Migros ihre Liefer-App «Amigos» wieder. Freiwillige können damit Einkäufe für die Corona-Risikogruppe tätigen. Die Unia bemängelt die Umsetzung.

Der grosse Durchbruch war es nicht: Nach einer eineinhalbjährigen Testphase in Bern und Zürich wurde die Social-Shopping-Plattform «Amigos» der Migros im Dezember eingestellt.

Doch nun erlebt sie angesichts der aktuellen Krisensituation ein Revival, wie Migros-Sprecherin Cristina Maurer «Bluewin» bestätigt: «Tatsächlich haben sich viele Kundinnen und Kunden bei uns gemeldet und sich gewünscht, dass wir unseren Lieferdienst ‹Amigos› wieder aktivieren sollen.»

Da Nachbarschaftshilfe in Zeiten des Coronavirus umso wichtiger sei, sei die App am Dienstag wieder aufgeschaltet worden. In einem ersten Schritt gehe es darum, möglichst viele Helferinnen und Helfer zu mobilisieren, die sich registrierten. «Erst dann können Leute der Risikogruppe ihre Einkäufe tätigen.»

Das Angebot von «Amigos» richtet sich neu speziell an ältere Personen und solche mit Vorerkrankungen, aber auch an all diejenigen in Quarantäne oder Selbstisolation. Auf einer gleichnamigen Website können Betroffene ihre Einkäufe eintragen. Diese Bestellungen werden dann via App von einer sogenannten Bringerin oder einem Bringer entgegengenommen, getätigt und geliefert.

Ganze Schweiz soll abgedeckt werden

Neu ist ein weiterer Punkt: Die Liefertätigkeit basiert auf Freiwilligkeit, entlohnt wird sie – anders als in der Testphase – nicht, wie Maurer erklärt. «Bestellerinnen und Besteller haben jedoch die Möglichkeit, ein Trinkgeld zu geben.» Die App stehe nun ganz im Zeichen von Solidarität und Nachbarschaftshilfe.




Unterstützt wird die Migros bei der Relancierung ihrer Social-Shopping-Plattform von Pro Senectute. Dort schätzt man vor allem die neue Gruppe von Freiwilligen, die mit «Amigos» angesprochen wird – die Jungen. «Sonst sind es meist die älteren Personen, die sich als Freiwillige betätigen, diese sind nun als Risikogruppe selbst auf Unterstützung angewiesen», so Sprecher Peter Burri.

In der aktuellen Notlage brauche es dringend Hilfsangebote, die auch noch mindestens bis im Mai bestünden und funktionierten, sagt Burri. «Die Plattform der Migros lässt sich sehr schnell wieder ausrollen – zudem zeigt die Erfahrung aus dem Piloten, dass es damit zu keinerlei Missbräuchen gegenüber Seniorinnen und Senioren gekommen ist.» Geplant sei, mit dem Angebot bald die ganze Schweiz abdecken zu können.

«Dumping-Lohn» – Kritik seitens Unia

Bevor «Amigos» eingestellt wurde, übte die Gewerkschaft Unia Kritik an der Liefer-App. Angeprangert wurde, dass die «scheinselbstständigen» Bringerinnen einen «Dumping-Lohn» von 7.90 Schweizer Franken pro gelieferte Einkaufstasche erhalten hätten und etwa ohne Unfall- oder Altersversicherung unterwegs gewesen seien.

Zuvor war die zuständige Ausgleichskasse zum Schluss gekommen, dass die Bringer im Grunde unselbstständige Erwerbstätige seien. Die Unia forderte die Migros deshalb dazu auf, ihnen etwa die Löhne und Versicherungsbeiträge rückwirkend zu bezahlen.

Schliesslich zog die Migros die App zurück: Durch eine mögliche Weiterentwicklung würde sie sich vermehrt in Richtung kommerzielle Shopping-Plattform bewegen – was im Widerspruch zur ursprünglichen sozialen Idee stünde.

«Migros müsste die Bringerinnen und Bringer anstellen»

Entsprechend kritisch betrachtet man bei der Unia nun die Relancierung. «Die Frage ist, wie die Migros das organisieren will», sagt Sprecher Philipp Zimmermann zu «Bluewin». Bemerkenswert findet er, dass auch Migros-Mitarbeitende, die ihrer Tätigkeit aufgrund der aktuellen Krise nicht nachgehen können, Einkaufsdienste über «Amigos» erledigen können – und dafür gemäss Migros ihren eigentlichen Lohn erhielten.

«Wie erklärt sich dann, dass alle restlichen Bringerinnen nicht ebenfalls entlohnt werden?», so Zimmermann. Die Migros spare so einen Lieferdienst, denn: «Korrekterweise müssten für alle dieselben Bedingungen gelten.» 



Die Migros-Ausgleichskasse habe die Bringer letztes Jahr als unselbstständig Erwerbende eingestuft. «Die Migros müsse sie also anstellen», so Zimmermann. Komme es bei der Lieferung eines Einkaufs etwa zu einem Velo-Unfall, stünden die Bringerinnen und Bringer ohne Unfallversicherung da.

Laut Zimmermann sind plattformbasierte Lieferdienste grundsätzlich in Ordnung – solange sie sauber aufgegleist seien, die Beschäftigten versichert seien und einen branchenüblichen Lohn erhielten.

Freiwilligkeit und Solidarität

Migros-Sprecherin Maurer versichert: «Die Situation ist eine völlige andere als im letzten Jahr. Es geht ausschliesslich um Freiwilligkeit und Solidarität.» Mit «Amigos» wolle man all jenen Personen, die gerne helfen würden, die Möglichkeit bieten, dies ohne die Lancierung einer eigenen Initiative zu tun.

In Bezug auf die sich beteiligenden Migros-Mitarbeitenden sagt Maurer: «Ihnen steht es frei, ob sie sich in diesem Rahmen betätigen wollen, oder nicht.» Auch hier käme also der Hilfsgedanke zum Tragen. In erster Linie richte sich «Amigos» aber an Freiwillige. Burri von Pro Senectute betont ebenfalls: «Das Ganze basiert auf absoluter Freiwilligkeit.»

«Das Gute an der App ist, dass es bei der Bestellung zu keinerlei direktem Kontakt zwischen den Helfenden und der Risikogruppe kommt. Auch die Einkäufe werden vor der Haustüre deponiert», führt Maurer aus. Halte die Krise länger an, werde man über jedes Hilfsangebot dieser Art froh sein. 

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