Ex-Arzt erzählt «Oft geht vergessen, dass wir den Patienten heilen wollen»

Von Alex Rudolf, Fabienne Berner und Alessio Blaser

9.4.2023

«Oft geht vergessen, dass wir den Patienten heilen wollen»

«Oft geht vergessen, dass wir den Patienten heilen wollen»

Eigentlich ist André Vauthey Arzt, heute arbeitet er als Schauspieler und Yoga-Lehrer. Was bringt den Neuenburger dazu, dem Gesundheitswesen den Rücken zu kehren? blue News fragt nach.

06.04.2023

Eigentlich ist André Vauthey Arzt, heute arbeitet er aber als Schauspieler und Yoga-Lehrer. Was bringt den Neuenburger dazu, dem Gesundheitswesen den Rücken zu kehren? blue News fragt nach.

Von Alex Rudolf, Fabienne Berner und Alessio Blaser

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • In der Schweiz fehlen zusehends Fachkräfte. Besonders in Spitälern braucht es in den kommenden Jahren Ärzte und Pflegende.
  • Der Freiburger André Vauthey ist ausgebildeter Arzt, kann sich heute aber nicht mehr vorstellen, auf dem Beruf zu arbeiten.
  • Der Grund: Es mangle in den Spitälern unter anderem an Teamgeist. Zudem würden sie oftmals von Personen geführt, die nicht wüssten, worauf es als Arzt oder als Pfleger*in ankomme.

Die Prognosen sind düster. Glaubt man den Zahlen des Wirtschaftsprüfungsunternehmens PWC, fehlen dem Schweizer Gesundheitswesen bis 2030 rund 32'500 Pflegekräfte und Ärzte. Zehn Jahre später sollen es sogar bis zu 45'000 Fachkräfte sein, die fehlen. PWC sagt daher auch unumwunden, dass sich die Lage gnadenlos zuspitze.

Was können die Politik und das Gesundheitswesen dagegen tun? blue News fragt bei einem Berufsaussteiger nach.

André Vauthey ist 34 Jahre alt und arbeitet heute als Schauspieler und Yoga-Lehrer, doch eigentlich ist er ausgebildeter Arzt.

Nach seinem Medizinstudium in Freiburg und Basel und abgeschlossener Doktorarbeit hätte er eine Stelle in Bern beginnen sollen. «Doch bereits während dem Studium zweifelte ich, ob das wirklich der richtige Werdegang für mich ist», sagt er zu blue News.

Kindheitswunsch Schauspielerei

Vauthey entschied sich, ein Zwischenjahr einzulegen, bevor der Ernst des Lebens als Arzt beginnen würde. Er wollte sich noch ausprobieren und sich auch Kindheitswünsche erfüllen, weshalb er eine Liste erstellte. Darauf stand auch, dass er früher einmal Schauspieler habe werden wollen, etwas, das ihn auch als ausgebildeter Arzt noch reizte.

Zur Person
Headshot Photographer

Der 34-Jährige wurde im Kanton Freiburg geboren, wo er auch die ersten Jahre seines Medizinstudiums absolvierte, das er anschliessend in Basel abschloss. Nach seinem Abschluss entschied er sich, es als Schauspieler zu versuchen. Er lebte und arbeitete vier Jahre in New York, bevor er nach Ausbruch der Pandemie in die Schweiz zurückkehrte. Hier ist er als Schauspieler tätig, gründete ein Kultur-Festival und arbeitet als Yoga-Lehrer.

«Bei einem Schauspiel-Kurs in London merkte ich, dass ich das Schauspielern liebe. Es fühlte sich nicht an wie Arbeit, sondern es war nur purer Spass.» Nachdem er in einigen Student*innen-Filmen mitgemacht hatte, entschied er sich, ein weiteres Zwischenjahr einzulegen und eine Schauspiel-Ausbildung in den USA zu absolvieren. In New York lebte und arbeitete Vauthey für rund vier Jahre, bis die Pandemie ausbrach.

In der Pandemie geriet auch das Schweizer Gesundheitspersonal unter Druck. Die Intensivstationen füllten sich, das vorhandene Personal häufte damit einhergehend Überstunden an. Ende 2021 nahm das Schweizer Stimmvolk zwar die Pflegeinitiative an, die den Nachwuchs der Branche fördern sollte. Das reicht jedoch nicht aus.

Denn laut der Studie von PWC verschärfte sich der Personalmangel auch aufgrund des Bevölkerungswachstums in der Schweiz, sowie mit einer Überalterung der Gesellschaft, was vermehrt zu chronischen Erkrankungen führt. Das führe zu Mehrfachbehandlungen. Derweil habe die Pandemie das vorhandene Personal erschöpft.

Rückkehr in die Schweiz wegen der Pandemie

Auch Vauthey wollte helfen. Er reiste im März 2020 zurück in die Schweiz, weil er vom Spital Freiburg angefragt wurde wegen Personalmangels. «Da in New York die Theater nach und nach schlossen, war der Plan, dass ich für einige Monate in die Schweiz zurückkehre und danach wieder nach New York reise», sagt er. Es sollte anders kommen: Als er in der Schweiz angekommen war, hatte das Spital Freiburg genug Ärzte und Vautheys Fähigkeiten wurden nicht mehr benötigt.

Langsam, aber sicher kristallisierte sich heraus, dass er in Freiburg bleiben würde, denn die Situation in New York besserte sich nur langsam. «Seit drei Jahren lebe ich nun wieder in der Schweiz und mache hier Theater. Daneben habe ich ein Kunst-Festival gegründet und arbeite als Yoga-Lehrer», sagt er.

Kann er sich jemals wieder vorstellen, als Arzt tätig zu sein? Die Antwort fällt eindeutig aus: «Nein, aktuell nicht.»

«Ich sehe, wie sich Studienkolleg*innen erst nach acht oder zehn Jahren im Beruf trauen, auf 80 Prozent zu reduzieren oder eine eigene Praxis zu eröffnen.»

Was hat Vauthey von der Medizin weggetrieben? «Sicherlich die langen Arbeitsstunden. Ich sehe, wie sich Studienkolleg*innen erst nach acht oder zehn Jahren im Beruf trauen, auf 80 Prozent zu reduzieren oder eine eigene Praxis zu eröffnen», sagt er. Davor war der Job Raubbau am Körper.

Natürlich gebe es Spitäler und Spitäler: «Oftmals ist es aber so, dass Raucher*innen die einzigen sind, die regelmässig eine Pause an der frischen Luft einlegen können. Viele Arzt-Kolleg*innen von mir begannen deswegen mit dem Rauchen. Das ist absurd.»

An vielen Spitälern fehlt der Teamgeist

Auch sei die Mentalität an vielen Spitälern schwierig. «Oft fehlt der Teamgeist und es sind alle gegen alle», sagt Vauthey. Ärzte würden sich über das Pflegepersonal nerven und umgekehrt. «Oft geht vergessen, dass wir den Patienten heilen wollen.» In seiner neuen Funktion als Yoga-Lehrer und Coach könne er viel besser auf seine Kund*innen eingehen.

«Ich bin überzeugt davon, dass alle Beteiligten ihr Bestes geben und eine gute Leistung erbringen wollen.»

Was muss sich ändern, damit das Gesundheitswesen wieder attraktiver wird? «Ich bin überzeugt davon, dass alle Beteiligten ihr Bestes geben und eine gute Leistung erbringen wollen.» Doch einerseits sollte sich die Kommunikation unter den Angestellten im Gesundheitswesen verbessern. «Damit wieder der Patient im Fokus steht.» Andererseits hat es sich eingebürgert, dass Menschen Spitäler leiten, die nicht wissen, was es heisst, Ärzt*in oder Pflegeperson zu sein. «Spitäler können nicht auf Effizienz getrimmt werden.»

Der Trend hingegen ist ein anderer. Denn die «NZZ am Sonntag» geht davon aus, dass 20 bis 25 Prozent aller Spitäler auch vor massiven finanziellen Problemen stehen werden. Nur jedes vierte Spital sei finanziell wirklich gesund. Warum? Mit der Inflation steige auch der Personal- und Sachaufwand, während die Erträge aufgrund des «starren Tarifsystems» nicht mithalten können, heisst es weiter. Dass sich Vautheys Hoffnung nach mehr Zeit für Patient*innen und weniger betrieblichem Druck erfüllt, scheint unwahrscheinlich.

Hatte Vauthey jemals ein schlechtes Gewissen, weil er ein teures Studium absolvierte, nun aber nicht im Job arbeitet? Anfangs ja, sagt er. Doch mit der Zeit habe sich gezeigt, dass es nicht nur an ihm liege, sondern auch das Gesundheitssystem angenehmer für das Personal werden sollte.

Seither habe er Frieden damit geschlossen.