Umstrittene Firma PMEDAIV-Ärzte gehen trotz Fehlern straffrei aus – dem Richter bleiben Fragezeichen
Sven Ziegler
27.10.2025
Zwei Ärzte der Firma PMEDA wurden am Montag freigesprochen. (Symbolbild)
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Nach einem langen Verhandlungstag am Bezirksgericht Zürich endete der Prozess gegen zwei frühere IV-Gutachter der umstrittenen Firma PMEDA mit einem Freispruch. Der Richter sah zwar Fehler, aber keine strafbare Absicht.
Es ist kurz nach 9 Uhr, als der vorsitzende Richter am Montagmorgen die Verhandlung am Bezirksgericht Zürich eröffnet. Schon kurz zuvor herrscht im Gerichtsgebäude ungewohnte Betriebsamkeit. Zwischen Journalisten, Anwälten und Prozessbeteiligten eilt ein Kommunikationsberater hin und her, der Medienvertreter darauf hinweist, keine Namen zu nennen. Eine formelle Befugnis hat er dafür allerdings nicht – und nötig wäre sie auch nicht: Die Anonymisierung von Angeklagten und Klägern gehört in Gerichtsverfahren längst zur gängigen Praxis.
Auf der Anklagebank sitzt nur einer der beiden Beschuldigten: ein 52-jähriger Psychiater. Er soll ein Gutachten verfälscht und damit einen arbeitsunfähigen Menschen um seine IV-Rente gebracht haben.
So lautet zumindest der Vorwurf der Staatsanwaltschaft. Das umstrittene Dokument stammt aus dem Jahr 2013, erstellt von der Gutachterfirma PMEDA in Zürich. Der Psychiater hat es damals im Auftrag der Invalidenversicherung verfasst, sein damaliger Chef unterzeichnete es mit.
Nach Ansicht der Anklage waren die Mängel des Gutachtens gravierend: Die Untersuchung des Patienten habe nur rund 45 Minuten gedauert, im Gutachten standen 90 Minuten; Tests, die erwähnt wurden, seien nie durchgeführt worden; Medikamente seien falsch oder gar nicht aufgeführt worden. Und die Mitunterzeichnung des PMEDA-Gründers, eines Neurologen, habe ein Vieraugenprinzip vorgetäuscht, das es nie gegeben habe.
Gericht arbeitet sich stundenlang durch die Anklagepunkte
Der PMEDA-Gründer bleibt der grosse Abwesende im Gerichtssaal. Auch er ist mitangeklagt, bleibt aber aus gesundheitlichen Gründen entschuldigt fern. Schon beim letzten angesetzten Termin im Mai fehlte er. Der Richter zeigt sich erstaunt, spricht von einer «ungeklärten Situation» und erwägt zunächst, das Verfahren gegen ihn abzutrennen. Nach Rücksprache mit den Parteien wird entschieden, das Verfahren gegen alle Beteiligten fortzusetzen – der Gründer verzichtet auf sein rechtliches Gehör.
Der Psychiater selbst wirkt ruhig. «Ich bin natürlich aufgeregt», sagt er, als er zur Befragung aufgerufen wird. Auf persönliche Fragen will er nicht eingehen, er verweist bei jeder Frage auf die eingereichten Unterlagen.
Dann arbeitet sich das Gericht durch die Anklagepunkte. Der Richter fragt nach der Vorbereitung, der Dauer der Untersuchung, der Verwendung standardisierter Tests. Der Psychiater bleibt bei seiner klaren Linie, antwortet nüchtern und emotionslos: Die Gesprächsdauer sei für die diagnostische Qualität des Berichts «nicht ausschlaggebend», die fraglichen Tests bei der bei dem Kläger zuvor diagnostizierten Depression nicht erforderlich. Auch die Einnahme eines Schlafmittels steht im Raum. Diese sei dokumentiert, aber nicht namentlich erwähnt, sagt der Psychiater. Das Medikament selbst habe für die Beurteilung keine Relevanz gehabt.
Auf die Rolle des Mitangeklagten PMEDA-Gründers angesprochen, sagt der Arzt, dieser habe «nur formal» gegengezeichnet und keine inhaltliche Prüfung vorgenommen – dazu sei dieser aufgrund seiner Position als Neurologe auch gar nicht befugt gewesen. Als der Richter nachhakt, ob also «theoretisch auch ein Germanist» hätte gegenlesen dürfen, antwortet der Psychiater knapp: «Theoretisch ja.»
PMEDA bestimmte jahrelang die Schlagzeilen
Die Zürcher PMEDA AG ist mittlerweile Geschichte – und doch schwebt sie bei diesem Prozess im Hintergrund immer mit. So erhielt das Unternehmen zwischen 2013 und 2022 von den IV-Stellen Aufträge im Wert von 26,7 Millionen Franken. Die Ärztefirma galt jahrelang als eine der wichtigsten Gutachterstellen der Schweiz, rund 2500 Gutachten erstellte sie gemäss einer «Blick»-Recherche. Wie die Zeitung zudem bereits 2019 berichtete, arbeiteten bei der PMEDA zahlreiche sogenannte «Flugärzte» – Mediziner mit Praxis in Deutschland, die für Begutachtungen in die Schweiz eingeflogen wurden. Zehn der 16 hauptverantwortlichen PMEDA-Gutachter hatten laut Bundesdaten ihren Praxissitz in Deutschland.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) hielt zunächst eisern am PMEDA fest. Doch dann mehrten sich Hinweise auf massive Qualitätsprobleme. Laut der Eidgenössischen Kommission für Qualitätssicherung (EKQMB) wiesen die PMEDA-Gutachten «gravierende formale und inhaltliche Mängel» auf. Das BSV beendete 2023 die Zusammenarbeit, kurz darauf wurde die Firma liquidiert.
Die PMEDA geriet wegen ihrer Tätigkeiten immer wieder in die Schlagzeilen. (Symbolbild)
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Wie der Infosperber recherchierte, soll es in den Jahren zuvor immer wieder zu Ungenauigkeiten gekommen sein. So sollen manche PMEDA-Gutachten gar nicht handschriftlich unterzeichnet worden sein: Die Unterschriften des Gründers seien «pixelgenau identisch», was auf eingescanntes Signieren hindeute – zu einer Zeit, als elektronische Signaturen noch gar nicht zulässig waren. Das Recherchekollektiv Correctiv berichtete, eine Sekretärin habe auf Grundlage von Notizen der Ärzte ganze Gutachten verfasst; die deutsche Steuerfahndung beschlagnahmte Akten wegen Verdachts auf Steuerhinterziehung.
Der «Beobachter» wiederum schrieb 2024, die PMEDA habe nach diesen Enthüllungen Strafanzeige gegen zwei Qualitätssicherer und eine Nationalrätin eingereicht – wegen «übler Nachrede» und «unlauteren Wettbewerbs». Die Firma sprach von einer «jahrelangen Kampagne von Geschädigtenanwälten».
In Zürich geht es am Montag denn auch nicht um die Geschäftspraxis der PMEDA generell, sondern lediglich um einen einzelnen der rund 2500 Fälle. Die Staatsanwaltschaft bleibt dabei bei ihren Forderungen. Sie fordert drei Jahre Freiheitsstrafe für den Psychiater, davon ein Jahr unbedingt, eine Busse über 10’000 Franken und einen fünfjährigen Landesverweis. Für den abwesenden Gründer verlangt sie zwei Jahre bedingt, 5000 Franken Busse und ebenfalls einen Landesverweis.
Der Staatsanwalt offenbart in seinem Plädoyer, dass er das Verfahren zunächst habe einstellen wollen, aufgrund einer Anweisung des Obergerichts sei es dann aber dennoch zu einer Anklage gekommen. Das tue der Sache aber keinen Abbruch, so der Staatsanwalt, denn: «Der Sachverhalt ist gleich mehrfach bewiesen»
In seinem Plädoyer bezeichnet er das Gutachten als «in keiner Weise genügend». Die Dokumentation sei «nicht korrekt», die Tests «nicht nachvollziehbar», Medikamente «unvollständig aufgeführt». Die Mitunterzeichnung durch den PMEDA-Gründer habe ein Vieraugenprinzip vorgetäuscht, das in Wahrheit nicht bestanden habe. Besonders eine Tonaufnahme, welche der begutachtete Mann heimlich gemacht hatte, hält die Staatsanwaltschaft für entscheidend: Sie zeige, dass die Befragung weit kürzer war als angegeben. «Da bleiben keine Zweifel», sagt der Staatsanwalt vor Gericht aus. «Gutachter dürfen nie und nimmer so arbeiten. Solche Gutachter wollen wir nicht.» Deswegen halte er auch an der Landesverweisung fest.
Verteidigung spricht bei PMEDA-Anklage von «Propaganda»
Die Verteidigung widerspricht entschieden. Der Anwalt des Psychiaters spricht von «redaktionellen Ungenauigkeiten», die «keinen Einfluss auf das Ergebnis» gehabt hätten. «Mein Mandant hatte kein Interesse, etwas zu fälschen», sagt er. Die Sozialgerichte hätten das Gutachten bereits geprüft – ohne Beanstandung. Die Tonaufnahme sei «rechtswidrig» und «unvollständig» und dürfe nicht verwertet werden.
Der Verteidiger des PMEDA-Gründers nennt die Anklage «reine Propaganda». Die zweite Unterschrift sei «ein formaler Akt» gewesen, keine Mitwirkung am Inhalt. Ausserdem dauere das Verfahren zu lange, sein Mandant sei «medial vorverurteilt».
Der Klägervertreter wirft den Ärzten indes vor, «eine Qualität vorzutäuschen, die nicht existiert». Sozialleistungen seien damit «vorenthalten» worden. «Eine vernichtete berufliche Existenz, das Ende einer 25-jährigen Ehe, verschlimmerte Gesundheitsverhältnisse und Wohnungslosigkeit prägen ihn heute», so der Anwalt. Der Rechtsvertreter des Psychiaters hält dagegen: Das Gutachten erfülle die Anforderungen, eine bewusste Manipulation habe es nicht gegeben.
Richter spricht von «Fragezeichen» – Freispruch für PMEDA-Ärzte
Kurz nach 19 Uhr kehrt das Gericht zurück. Der Richter erklärt zunächst, die Tonaufnahme des Explorationsgesprächs sei verwertbar – unabhängig davon, ob sie rechtmässig entstanden sei. Sie sei «unerlässlich» für die Beurteilung.
Er erkennt Fehler im Gutachten: Die Tests und Medikamentennamen seien teilweise falsch oder unvollständig festgehalten worden. Doch daraus ergebe sich kein fehlerhaftes Gesamtbild des Gesundheitszustands, so das Gericht. Über die Dauer des Gesprächs lasse sich zudem nicht auf dessen Qualität schliessen.
Dann kommt der Richter auf die Vernehmung des Klägers zurück. Dessen Vorwurf, der Psychiater habe ihn während des Gesprächs unterbrochen, sei in den Akten vermerkt. «Da gibt es schon das eine oder andere Fragezeichen», sagt der Richter, fügt aber an, dass die Vorgeschichte des Mannes den Gutachtern bekannt gewesen sei und sie über einen gewissen Ermessensspielraum verfügt hätten.
Das Unterzeichnungs-Prozedere bezeichnet der Richter als «nicht unüblich». Es sei ersichtlich gewesen, dass der PMEDA-Gründer kein Facharzt für Psychiatrie war, die Mitunterzeichnung habe formalen Charakter gehabt.
In der rechtlichen Würdigung betont der Richter, für einen Betrug müsse Arglist vorliegen – diese sei nicht erkennbar. Die Mängel seien Ausdruck unsorgfältiger Arbeitsweise, nicht bewusster Täuschung. Wären Tests und Medikamente korrekt aufgeführt worden, hätte dies am Ergebnis nichts geändert.
Auch der Vorwurf der Bereicherung falle dahin. Deshalb spricht das Bezirksgericht beide Beschuldigten vom Betrug frei. Gleiches gilt für die Urkundenfälschung – eine «enge Verkettung» von Bestimmungen lasse keinen Vorsatz erkennen. Zudem sei der Vorwurf verjährt.
Die beiden IV-Ärzte erhalten jetzt eine Entschädigung. Eine Genugtuung wird beiden verwehrt. Es gibt weder Tätigkeitsverbot noch Landesverweisung. Der Privatkläger wird mit seinen Forderungen auf den Zivilweg verwiesen.
Das Urteil kann jetzt noch ans Obergericht weitergezogen werden.