Zwei Sprachen, zwei Meinungen Warum die Romandie mit Gaza fühlt – und die Deutschschweiz mit Israel

Petar Marjanović

15.6.2025

Genf: In den vergangenen Wochen kam es mehrfach zu Protesten wegen der humanitären Lage in den palästinensischen Gebieten. (Archivbild)
Genf: In den vergangenen Wochen kam es mehrfach zu Protesten wegen der humanitären Lage in den palästinensischen Gebieten. (Archivbild)
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In der Schweiz sorgt der Krieg in Gaza für Spannungen zwischen West- und Deutschschweiz. Alte Erfahrungen prägen, auf wessen Seite das Mitgefühl liegt.

Petar Marjanović

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  • In der Schweiz wird der Krieg in Gaza je nach Sprachregion unterschiedlich gesehen.
  • Die Romands fühlen stärker mit den Palästinensern, die Deutschschweizer eher mit Israel.
  • Der Grund liegt in alten Erfahrungen und kollektiven Erinnerungen, die bis heute nachwirken.

Der Krieg im Nahen Osten sorgt in der Schweiz für Spannungen zwischen der Romandie und der Deutschschweiz. Viele Westschweizerinnen und Westschweizer fühlen mit den Palästinensern, während in der Deutschschweiz die Solidarität eher Israel gilt. Das zeigt eine Umfrage des Forschungsinstituts Sotomo, durchgeführt drei Monate nach dem Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023.

In der Westschweiz wächst seither das Unverständnis über die Zurückhaltung im deutschsprachigen Landesteil – besonders mit Blick auf das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza. Das Westschweizer Radio RTS spricht inzwischen vom «Gaza-Graben». Auch Bundesrat Ignazio Cassis steht unter Druck – selbst aus bürgerlichen Kreisen der Romandie. Der Vorwurf: Er äussere sich nicht klar genug zur israelischen Politik.

Zürich: Im Juni 2024 fand ein «Marsch für Israel gegen Antisemitismus» statt.
Zürich: Im Juni 2024 fand ein «Marsch für Israel gegen Antisemitismus» statt.
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«Underdog»-Haltung führt zu Soldarisierung mit Palästina

Warum sind die Meinungen so verschieden? Laut Soziologe Michael Hermann spielt das kollektive Gedächtnis eine zentrale Rolle. Er veröffentlichte in der «NZZ am Sonntag» einen Kommentar, in dem er einen Erklärungsversuch für diese Entwicklung liefert.

Hermanns These: In der Deutschschweiz habe die Aufarbeitung des Holocausts nach dem Zweiten Weltkrieg zu mehr Verständnis für Israels Sicherheitsinteressen geführt.

In der Romandie sei das anders. Dort fühlten sich viele schon lange gegenüber der Deutschschweiz benachteiligt – zum Beispiel seit dem Jurakonflikt oder der EWR-Abstimmung 1992. Diese Erfahrungen führten dazu, dass sich viele Romands stärker mit den Palästinensern identifizieren – die sie als «Underdogs» sehen.

Sprache als politischer Kompass

Ein weiterer Unterschied: Die Westschweiz orientiere sich stärker an französischen Medien, wo Kritik an Israel häufiger vorkommt. In der Deutschschweiz dominieren deutsche Medien, die oft zurückhaltender berichten.

Auch die gemeinsame Sprache mit dem jeweiligen Nachbarland wirkt sich aus. Ein Beispiel: 1938 akzeptierte die Schweiz den Nazi-Judenstempel ohne Widerstand. Doch nach dem Krieg kam es vor allem in der Deutschschweiz zu einer intensiven Debatte über die Mitverantwortung. Diese Diskussion hat das Verhältnis zu Israel bis heute geprägt. In der Romandie war die Auseinandersetzung weniger stark ausgeprägt.

Der Politikanalyst Michael Hermann betont: Kollektive Erinnerungen beeinflussen, wie Gesellschaften Konflikte wahrnehmen – auch in Ländern wie der Schweiz, die selbst nicht direkt betroffen sind. Entscheidend sei deshalb das Bewusstsein für das menschliche Leid – auf beiden Seiten des Konflikts.


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