Gewalt in Winterthurer Moschee Das musst du zum An'Nur-Prozess wissen

falu, sda

6.9.2021 - 11:52

Einer der Angeklagten auf dem Weg zur Urteilverkündung im An'Nur-Prozess vor dem Winterthurer Bezirksgericht im Oktober 2018. 
Einer der Angeklagten auf dem Weg zur Urteilverkündung im An'Nur-Prozess vor dem Winterthurer Bezirksgericht im Oktober 2018. 
Bild: Keystone/Walter Bieri

Neun Besucher der ehemaligen An'Nur-Moschee in Winterthur stehen ab heute vor dem Zürcher Obergericht. Sie sollen zwei angebliche «Verräter» festgehalten und drangsaliert haben. Worum es bei dem Fall geht.

6.9.2021 - 11:52

Wer sind die Beschuldigten?

Angeklagt sind zehn Männer, die die umstrittene – und mittlerweile geschlossene – An'Nur-Moschee in Winterthur besucht hatten. Grund ist ein Vorfall vom 22. November 2016: Damals sollen sie zwei andere Moschee-Besucher festgehalten, bedroht und teilweise geschlagen haben. 

Für einen zum Tatzeitpunkt noch minderjährigen Beschuldigten gilt das Jugendstrafverfahren. Er muss daher nicht persönlich vor dem Zürcher Obergericht erscheinen. 

Die Staatsanwaltschaft wirft den Männern unter anderem Freiheitsberaubung, Entführung, Drohung, Nötigung, einfache Körperverletzung sowie Tätlichkeiten vor.

Was ging in der An'Nur-Moschee vor sich?

Die An'Nur-Moschee stand jahrelang in den Schlagzeilen, weil dort auch Vertreter der Salafisten-Szene mit radikalen Ansichten verkehrten. 

Mehrere junge Männer, die nach Syrien gereist waren, um sich der Terrrormiliz «Islamischer Staat» (IS) anzuschliessen, sollen im Umfeld der Moschee angeworben worden sein. Bei einer Razzia in der An'Nur-Moschee verhaftete die Polizei 2016 vier Personen, darunter einen Imam. Er wurde wegen eines Gewaltaufrufs in einer Predigt verurteilt und inzwischen nach Somalia ausgeschafft.

Im Sommer 2017 schloss die An'Nur-Moschee ihre Tore. Ein Weitermachen wäre unmöglich gewesen, begründeten die Betreiber. 

Eine Gerichtszeichnung zeigt die Verhandlung von 2018 vor dem Winterthurer Bezirksgericht. 
Eine Gerichtszeichnung zeigt die Verhandlung von 2018 vor dem Winterthurer Bezirksgericht. 
Bild: Keystone/Linda Graedel

Was ging am Tatabend vor sich?

Die Atmosphäre unter Besuchern der Moschee war in den Wochen und Tagen vor der Tat angespannt. Die Angeklagten warfen den beiden anderen Moschee-Besuchern vor, «Verräter und Spione» zu sein, die den Medien interne Informationen gesteckt haben sollen.

Im Büro der Moschee wollten sie die beiden zur Rede stellen – dabei kam es gemäss den Anklageschriften zu Drohungen und Schlägen. Weil einer der beiden Männer angeblich beim Fotografieren mit dem Handy erwischt wurde, wurden er laut Anklage auch dazu genötigt, sein Mobiltelefon samt Sperrcode auszuhändigen. 

Einer der Beschuldigten soll laut NZZ gedroht haben: «Wie willst du sterben? Sollen wir deinen Schädel zerstören oder sollen wir dich köpfen?» Ein anderer Angeklagter soll einem der «Verräter» eine Zehnernote in den Mund gesteckt und ihn gezwungen haben, diese zu schlucken. Er habe seine Religion für Geld verkauft, so lautete sein Vorwurf. 

Schliesslich seien die beiden drangsalierten Männer dazu gezwungen worden, ein Geständnis abzulegen, dass sie interne Vorgänge in der Moschee verraten respektive die Moschee ausspioniert hätten.

Im Verlaufe des Gerangels stiessen auch ein Imam und der damalige An-Nur-Präsident dazu. Doch erst die Polizei, die von einem der beiden drangsalierten Männern alarmiert worden war, setzte dem Treiben ein Ende.



Was sagen die Beschuldigten?

Vor dem Obergericht bestritten die Beschuldigten am Montag die Vorwürfe und bezeichneten sie unter anderem als Lüge. Was ihnen widerfahren sei, sei ungerecht, sagte einer der Männer. Ein anderer Angeklagter nannte das Verfahren «Theater» und sah sich selbst als «Opfer».

Von den vorgeworfenen Tätlichkeiten gegen die zwei Moschee-Besucher hat gemäss Aussage keiner etwas mitbekommen. Der Imam sagte vor Gericht, die beiden hätten auch nie gesagt, dass sie die Moschee verlassen wollten. «Das haben sie nie verlangt.»

Der Imam sagte vor Gericht, einer der Moschee-Besucher habe von sich aus das Geständnis ablegen wollen, dass er mit einem Journalisten zusammengearbeitet habe. «Er hatte Schuldgefühle.»

Während der Verhandlungen am Bezirksgericht Winterthur, der Vorinstanz, hatten die Männer erklärt, man habe die «Spitzel» lediglich zur Rede stellen wollen. Einige der Beschuldigten gaben aber zu, sie angespuckt und beleidigt zu haben. Die Verteidiger forderten Freisprüche.

Wie lange dauert der Prozess?

Das Berufungsverfahren vor dem Zürcher Obergericht beginnt am Montagmorgen. Das Gericht hat für den Prozess fünf Tage eingeplant. Die Urteile sollen Anfang Oktober verkündet werden.

Wie hat die Vorinstanz geurteilt?

Das Bezirksgericht Winterthur hat im Oktober 2018 sieben der beteiligten Männer im Alter zwischen 17 und 24 Jahren verurteilt – wegen Freiheitsberaubung, Nötigung und Drohung. Es sprach bedingte Freiheitsstrafen zwischen 6 und 18 Monaten sowie bedingte Geldstrafen aus. Zwei Männer – ein Mazedonier und ein Afghane – sollen zudem für sieben Jahre des Landes verwiesen werden.

Der Imam, der später zur Auseinandersetzung in der Moschee stiess, wurde nicht mit einer Freiheitsstrafe, sondern mit einer bedingten Geldstrafe von 180 Tagessätzen bestraft.

Der Vereinspräsident der Moschee wurde vollumfänglich freigesprochen, ein weiterer junger Mann mangels Beweisen ebenfalls.

Die Urteile sind damit wesentlich milder ausgefallen, als von der Staatsanwaltschaft erhofft. Diese hatte teilbedingte Freiheitsstrafen von zweieinhalb bis drei Jahren gefordert und zog das Urteil ans Obergericht weiter. 

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