Frau Medici, Sie fordern die Gleichberechtigung, doch wenn es um die gleichen Pflichten geht, gehen Sie auf die Barrikaden. Ist das eine Doppelmoral? Medici: Keineswegs. Wir fordern eine finanzielle Gleichberechtigung, von der wir in der Altersvorsorge meilenweit entfernt sind. In der AHV gibt es tatsächlich ausgleichende Mechanismen, doch in den anderen Bereichen gibt es diese nicht und sind sie auch kaum zu erreichen. Die Befürworter der AHV21 sagen, man komme der Gleichstellung mit gleichem Rentenalter näher, das ist aber eine Farce.
Diana Gutjahr
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Die Thurgauerin sitzt seit 2017 für die SVP im Nationalrat und setzt sich für die Annahme der AHV21 ein. Die 38-Jährige ist Betriebsökonomin und leitet ihr eigenes Unternehmen.
Frau Gutjahr, Frauen erhalten die viel geringeren Renten. Ist es angemessen, als Erstes bei den Frauen den Hebel anzusetzen? Gutjahr: Zuerst müssen wir klären, worum es eigentlich geht. Wir sprechen von der AHV und nicht über alle drei Säulen der Vorsorge gemeinsam. Im Vorfeld zu dieser Abstimmung wird dies von den Gegnern der Vorlage immer wieder vermischt. Gerade eben gab Frau Medici zu, dass die Frauen in der ersten Säule nicht benachteiligt, sondern sogar leicht bevorzugt werden. Dort gehen 53 Prozent des Rentenvolumens an Frauen. Für mich soll die AHV-Revision kein Geschlechterkampf zwischen Mann und Frau sein. Die AHV braucht strukturelle und finanzielle Reformen, damit sie langfristig überlebensfähig ist.
Gabriela Medici
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Die Zürcherin ist stellvertretende Sekretariatsleiterin des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB). Sie studierte Rechtswissenschaften und verfasste eine Dissertation zu den Menschenrechten von Migrant*innen, die als Pflegehilfen in Schweizer Haushalten arbeiten.
Warum vermischen Sie die drei Säulen, Frau Medici? Medici: Ja, die Renten von Frauen und Männern sind in der ersten Säule auf gleichem Niveau. Um zu überleben, braucht es aber die zweite Säule eben auch. Von den heutigen Rentnerinnen hat rund die Hälfte keine berufliche Vorsorge. Bei Neu-Rentnerinnen ist es noch immer ein Drittel. Mit der vorliegenden Reform nimmt man diesen Frauen AHV-Geld weg – 100 Franken pro Monat. Übers ganze Leben sind dies 26'000 Franken. Und die Politik hat keine Lösung, wie man die Ungleichheit in der beruflichen Vorsorge beseitigt.
Sie beide sagen, dass es keine Frage des Geschlechts ist. Dennoch: Laut Umfragen würden 63 Prozent der Frauen die Reform bachab schicken. Gibt Ihnen das zu denken, Frau Gutjahr? Gutjahr: Genau darum ist es auch wichtig, dass wir diese Frauen darüber informieren, warum es die Revision genau braucht. Die Gegenseite spricht stets von Rentenkürzungen, was einfach nur eine Lüge ist. Ich finde es verwerflich, wenn man die Bevölkerung mit falschen Argumenten einschüchtern will. Fakt ist: Neun Übergangsjahrgänge erhalten lebenslang Kompensationsmassnahmen – besonders bei tieferen Einkommen. Worüber ebenfalls nicht gesprochen wird: Die Frauen dürfen ein Jahr länger arbeiten und erhalten so die Möglichkeit, ein Jahr länger in die zweite und in die dritte Säule einzuzahlen. Das übersteigt 26'000 Franken bei Weitem.
Medici: Bereits heute kann man sich seine Rente substanziell aufbessern, wenn man seine Rente um ein Jahr aufschiebt. Arbeitet man beispielsweise bis 69, sind es sogar über 31 Prozent höhere AHV-Renten. Aber viele mögen nicht, können nicht oder erhalten keine Chance von ihrem Arbeitgeber, länger zu arbeiten. AHV 21 ist eine Sparvorlage und bei einer solchen muss irgendwem etwas weggenommen werden. In diesem Fall den Frauen. Die 26'000 Franken wurden von unabhängiger Seite wie auch von der Gegenseite als korrekt anerkannt.
Gutjahr: Ja, durch die Erhöhung des Rentenalters gibt es Mehreinnahmen.
Medici: Hauptsächlich sind es weniger Ausgaben: nämlich neun Milliarden in den nächsten 10 Jahren. Die Mehreinnahmen betragen lediglich eine Milliarde.
Gutjahr: Sehen Sie, die AHV ist heute nur im grünen Bereich, weil wir jedes Jahr zwei Milliarden Franken in ihre Kassen pumpen. Wäre dies nicht der Fall, wäre sie heute schon im Negativbereich – und das wissen auch Sie, Frau Medici. Es geht doch nicht an, dass wir es in 25 Jahren nicht schaffen, ein wichtiges Sozialwerk zu reformieren. Man muss das aus einem anderen Blickwinkel betrachten: Arbeiten ist nichts Böses, doch genau dies wird von den Gegnern der Vorlage angedeutet. Bei uns im Unternehmen arbeiten 80 Personen, von denen fünf im Pensionsalter sind. Das Argument, dass ältere Arbeitnehmer keine Stelle mehr finden, ist nicht korrekt. Die Arbeitslosenquote bei den Älteren ist tiefer als bei den Jungen.
Medici: Doch, das ist sie. Aber zuerst: Niemand muss aufhören zu arbeiten, nur weil er oder sie das Rentenalter erreicht hat. Dass Sie eine Arbeitgeberin sind, die es ermöglicht, freut mich sehr. Aber diverse Erhebungen zeigen, dass ein Drittel der Arbeitgeber nicht bereit ist, jemanden über 65 Jahren anzustellen. Rund die Hälfte der Leute ist bereits heute ein Jahr vor dem Rentenalter nicht mehr erwerbstätig. Und wer es sich leisten kann, geht noch viel früher. Wir wehren uns gegen Altersreformen, die die Realität des Arbeitsmarktes ignorieren.
Sie sind sich einig, dass die Ungleichheit in der zweiten und nicht in der ersten Säule besteht. Welche Garantien können Sie den Gegnerinnen von AHV21 für eine Verbesserung der beruflichen Vorsorge geben, Frau Gutjahr?
Gutjahr: Dass man in der beruflichen Vorsorge zugunsten der Teilzeit-Angestellten etwas verbessern muss, ist unbestritten. Aber: Die drei Säulen der Vorsorge dürfen nicht vermischt werden. Quersubventionen sind in diesem Bereich nicht zukunftsfähig. Die Gegner der Rentenalter-Erhöhung wären auch in 20 Jahren noch dagegen.
Medici: Falsch. Bei der Revision, die vor fünf Jahren gescheitert ist, stellten wir uns hinter das gleiche Rentenalter von Mann und Frau, weil die Reform für die Frauen eine substanzielle Verbesserung beinhaltete. Heute gibt’s dauerhafte Verschlechterungen und Brosamen für wenige Jahre.
Gutjahr: Rentenzuschläge für Frauen mit tieferen Einkommen von bis zu 160 Franken sind eine Verbesserung. Die Reform wird nicht auf dem Buckel der Frau umgesetzt.
Eine grosse Ungleichheit besteht in der beruflichen Vorsorge. Rund 30 Prozent der Frauen verfügen über keine solche. Was sagen Sie diesen 30 Prozent Frauen, Frau Gutjahr?
Gutjahr: Eine Revision der zweiten Säule ist noch nicht vorhanden und wir können keine Vorlage diskutieren, die es noch nicht gibt. Ich persönlich stehe dazu: Quersubventionierungen sind keine Option. 1948 kamen auf einen Rentner noch 6 Erwerbstätige, heute sind es knapp drei. Wir brauchen Lösungen.
Medici: Die AHV ist eine Erfolgsgeschichte, die den demografischen Wandel bislang mit wenig Anpassungen gut gemeistert hat. Warum? Weil die Basis der AHV die Gesamtlohnsumme in der Schweiz ist.
Die Gegner sagen, die Revision sei nicht notwendig.
Medici: Wir sagen nur, dass die AHV bis 2029 in den schwarzen Zahlen ist. Der Tenor der Bürgerlichen ist, dass die AHV kurz vor dem Konkurs steht. Wir wollen darauf hinweisen, dass wir ausreichend Zeit haben, um eine neue Reform zu schaffen. Es braucht eine solche. Es ist aber nicht sinnvoll, dort zu sparen, wo ohnehin am wenigsten Rente ankommt – bei den Frauen. Auch die Erhöhung der Mehrwertsteuer angesichts der drohenden Energiekrise ist fragwürdig, zumal wir mit einer AHV-Revision noch bis ins nächste Jahrzehnt Zeit haben.
Gutjahr: Wir haben bereits 2023 und wir wissen alle, wie lange wir keine Reform zustande gebracht haben. Das Problem muss an seinem Ursprung behoben werden.
Vielleicht finden wir nach so vielen Differenzen zwischen Ihnen noch eine Gemeinsamkeit: Wie verbringen Sie den Abstimmungssonntag?