Geschichte des Rahmenabkommens Was lange währt, wird doch nicht gut

SDA

26.5.2021

2002 kam die Idee eines Rahmenabkommens erstmals aufs Tapet, seit 2014 hat die Schweiz mit der EU verhandelt. Die lange Leidensgeschichte im Rückblick.

SDA

26.5.2021

Seit 2014 verhandeln die Schweiz und die EU über gemeinsame Spielregeln zur Auslegung und Aktualisierung von bilateralen Verträgen. Erstmals kam ein solches Rahmenabkommen 2002 aufs Tapet – auf Vorschlag der Schweiz. Damit begann ein langwieriger, zeitweise stockender Prozess.

18. März 2002: Die Aussenpolitische Kommission des Ständerates bringt in einem Bericht zur Integrationspolitik die Möglichkeit ins Spiel, die bilateralen Abkommen mit der EU unter dem Dach eines Rahmenabkommens zu bündeln.

18. September 2008: Das Parlament beauftragt den Bundesrat, Verhandlungen mit der EU über ein Rahmenabkommen aufzunehmen.

8. Dezember 2008: Der EU-Ministerrat begrüsst «die angekündigten Beratungen im Schweizer Parlament». Zugleich kritisiert er die 8-tägige Voranmeldepflicht für EU-Dienstleister als Verletzung der Personenfreizügigkeit.

20. Dezember 2012: Der Rat der EU macht den Abschluss neuer Abkommen über den Marktzugang von einer Lösung bei den institutionellen Fragen abhängig.

18. Dezember 2013: Der Bundesrat verabschiedet das Mandat für Verhandlungen mit der EU. Darin schliesst er die automatische Übernahme von EU-Recht aus. Die flankierenden Massnahmen will er vollständig erhalten («rote Linien»).



Marschhalt wegen «Masseneinwanderung»

12. Februar 2014: Drei Tage nach dem Ja des Schweizer Stimmvolks zur Masseneinwanderungsinitiative nehmen die EU-Botschafter das EU-Verhandlungsmandat für ein institutionelles Rahmenabkommen (InstA) vorläufig von der Agenda.

6. Mai 2014: Der EU-Ministerrat verabschiedet das Verhandlungsmandat für ein Rahmenabkommen. Für eine definitive Lösung fordert Brüssel jedoch die Lösung des Problems mit der Personenfreizügigkeit.

22. Mai 2014: Die Verhandlungen beginnen in Bern. Heftig umstritten sind die automatische Rechtsübernahme und die Streitbeilegung.

16. Dezember 2016: Mit dem «Inländervorrang light» verabschiedet das Parlament eine EU-kompatible Umsetzung der Zuwanderungsinitiative.

Deblockierung

6. April 2017: Bundespräsidentin Doris Leuthard und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker verständigen sich in Brüssel auf eine Wiederaufnahme der blockierten Verhandlungen.

20. September 2017: Der frisch gewählte Bundesrat Ignazio Cassis bezeichnet in einem Interview das Wort Rahmenabkommen als «total vergiftet». Man müsse den Mut haben, auf den «Reset-Knopf» zu drücken.

Aussenminister Ignazio Cassis bringt den Begriff des «Reset-Knopf» aufs Tapet. 
Aussenminister Ignazio Cassis bringt den Begriff des «Reset-Knopf» aufs Tapet. 
Bild: Keystone/Gian Ehrenzeller

2. März 2018: Der Bundesrat akzeptiert bei der Streitbeilegung ein Schiedsgericht. Er bekräftigt hingegen, dass die flankierenden Massnahmen zum Freizügigkeitsabkommen nicht zur Disposition stehen.

13. Juni 2018: Aussenminister Cassis erklärt sich in einem Interview bereit, der EU bei den flankierenden Massnahmen entgegenzukommen. Die Gewerkschaften reagieren angesichts des möglichen Verlusts des Lohnschutzes entsetzt.

2. Juli 2018: Die Wirtschaft spricht sich mehrheitlich für das Rahmenabkommen mit der EU aus.

4. Juli 2018: Der Bundesrat will nicht an den flankierenden Massnahmen rütteln.

Zeit war schon 2018 knapp

13. September 2018: EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker drängt auf eine Entscheidung. Die Zeit werde langsam knapp.

7. Dezember 2018: Die Schweiz und die EU haben sich nicht auf ein institutionelles Rahmenabkommen geeinigt. Umstritten bleiben die flankierenden Massnahmen und die Unionsbürgerrichtlinie. Der Bundesrat hat das Verhandlungsergebnis trotzdem veröffentlicht.

17. Dezember 2018: Die EU-Kommission verlängert die Äquivalenz der Schweizer Börse – allerdings nur für sechs Monate.

Februar/März 2019: FDP-Liberale Fraktion und Grünliberale beschliessen ein Ja zum InstA.

13. März 2019: Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) lehnt das ausgehandelte Rahmenabkommen ab: Die flankierenden Massnahmen zum freien Personenverkehr und der Lohnschutz seien nicht verhandelbar.

Erpressungsversuch und Retourkutsche

7. Juni 2019: Der Bundesrat bekräftigt seine «insgesamt positive Einschätzung», verlangt aber «Klärungen» in den altbekannten Streitpunkten staatliche Beihilfen, Lohnschutz und Unionsbürgerrichtlinie.

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Kein Rahmenabkommen mit der EU: Ein guter Entscheid?

11. Juni 2019: EU-Kommissionspräsident Juncker zeigt sich offen für ergänzende Gespräche. Diese müssten aber den «Buchstaben und Geist der Gesamtpakets» respektieren, über das sich die Unterhändler im November 2018 verständigt hätten. Zugleich drängt Juncker auf ein rasches Vorgehen, am besten innerhalb einer Woche, damit die EU-Kommission «den allgemeinen Zustand» der Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz an ihrer Sitzung vom 18. Juni beurteilen könne.

18. Juni: Die Fronten verhärten sich: Wegen «mangelnden Fortschritts» beim Rahmenabkommen lässt die EU zum 1. Juli 2019 die sogenannte Börsenäquivalenz auslaufen. Im Gegenzug verbietet der Bundesrat den Handel mit Schweizer Aktien an europäischen Börsen.

3. Dezember 2019: National- und Ständerat haben sich bei der Kohäsionsmilliarde geeinigt. Die EU soll das Geld aber erst bekommen, nachdem sie die Schweizer Börsenregulierung als gleichwertig anerkannt hat (Börsenäquivalenz).

Das verlorene Jahr

Bis zur Abstimmung am 27. September wird während des Jahres 2020 die Diskussion um InstA von jener zur Begrenzungsinitiative überlagert.

27. September 2020: Die Eidgenössische Volksinitiative «Für eine massvolle Zuwanderung (Begrenzungsinitiative)» wird abgelehnt. Der Bundesrat signalisiert Erleichterung und verspricht, auf die EU-Kommission zuzugehen. Die EU-Kommission drängt auf baldige Unterzeichnung.

November 2020: Der Bundesrat gibt bekannt, dass er seine Position bei den drei offenen Punkten im Rahmenabkommen – den flankierenden Massnahmen, den staatlichen Beihilfen sowie der Unionsbürgerschaft – festgelegt habe.

Fertig verhandelt, jetzt wird «präzisiert»

Anfang 2021: Stimmen, der Bundesrat solle endlich vorwärts machen, werden immer lauter. Economiesuisse fordert die Beendigung des «Schwebezustands». GLP-Präsident Jürg Grossen wirft dem Bundesrat Zaudern und mangelnde Führungsstärke vor.

Februar/März 2021: Livia Leu, seit Oktober 2020 Chefunterhändlerin für die Verhandlungen mit der Europäischen Union, reist etwa alle zwei Wochen zu Klärungsgesprächen nach Brüssel.

Livia Leu Agosti reist in der Schlussphase der Verhandlungen regelmässig nach Brüssel.
Livia Leu Agosti reist in der Schlussphase der Verhandlungen regelmässig nach Brüssel.
KEYSTONE/MARCEL BIERI

2. März 2021: Die Parlamentarische Gruppe «Für eine Zukunft der Bilateralen» konstituiert sich. Sie will den Bundesrat für die Klärungen in den drei ungenügenden Verhandlungsresultaten zu den Themen Lohnschutz, Unionsbürgerrechte und staatliche Beihilfen unterstützen.

3. März 2021: Wegen der schleppenden Gespräche beim Rahmenabkommen Schweiz-EU befürchten Ärzte, Spitäler, Patientenschützer und Industrievertreter Importhürden für Medizinprodukte.

22. März 2021: Die EU betrachtet die Verhandlungen mit der Schweiz zum Rahmenabkommen offenbar als abgeschlossen. Das behauptet zumindest der deutsche Botschafter in der Schweiz, Michael Flügger, gegenüber der NZZ.

23. März 2021: Die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats (APK-N) verlangt, konsultiert zu werden, bevor der Bundesrat seinen Entscheid zum InstA fällt.

25. März 2021: ETH-Lausanne (EPFL)-Präsident Martin Vetterli warnt in der NZZ vor einem Scheitern des Rahmenabkommens. Die EU habe genug «von unseren Sonderwünschen». Sie werde kein zweites Mal zu Konzessionen bereit sein.

27. März 2021: SVP-Präsident Marco Chiesa erklärt an der digitalen Partei-DV, die SVP werde weiter kämpfen gegen das «alte Pferd» Rahmenabkommen, gegen den «unwürdigen Knebelvertrag mit der EU».

11. April 2021: Bundesrat Ignazio Cassis sagt in einem Interview mit dem «SonntagsBlick»: «Jede Verhandlung hat als mögliches Resultat einen Erfolg oder keinen Erfolg. Wer hart verhandelt, muss auch mit einem Scheitern rechnen.» Über einen möglichen Plan B könne erst gesprochen werden, wenn geprüft worden sei, «was die EU bereit ist zu geben».

14. April 2021: Gewerkschaftsbund-Präsident Pierre-Yves Maillard sagt gegenüber den Tamedia-Zeitungen in der Westschweiz, die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen seien in eine Sackgasse geraten, weil die Unterhändler ihr Mandat überschritten hätten. Maillard erwähnte in diesem Zusammenhang die Diskussion über den Lohnschutz und den Service Public. Er rechne aber letztlich nicht mit einem Scheitern der Verhandlungen über ein Rahmenabkommen.

14. April 2021: Der Bundesrat kündigt an, in Kürze nach Brüssel reisen zu wollen. Geplant seien in den seit sieben Jahren andauernden Diskussionen wieder Gespräche auf höchster Ebene. Eine Delegation der Schweizer Landesregierung wolle sich mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen treffen.

16. April 2021: Die EU-Kommission kritisiert die Haltung des Bundesrats zum Rahmenabkommen scharf. In einem internen Protokoll für die 27 EU-Staaten hält sie fest, die Schweiz sei nicht Willens oder fähig, das Rahmenabkommen abzuschliessen. Es sei auch in fünf Verhandlungen mit Chefunterhändlerin Livia Leu nicht klar geworden, was das Land wolle. Einen Fahrplan habe die Schweiz zurückgewiesen. Es gebe sowohl beim Prozess als auch beim Inhalt keine Fortschritte.

16. April 2021: Der Bundesrat gibt bekannt, dass Bundespräsident Guy Parmelin allein zum Treffen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 23. April in Brüssel reist.

17. April 2021: Die FDP Schweiz legt an einer ausserordentlichen Fraktionssitzung einen 3-Säulen-Aktionsplan für den Fall vor, dass der Bundesrat das Ergebnis der Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit der EU ablehnen sollte. Die erste Säule betrifft internationale Massnahmen mit der EU, die zweite Säule internationale Massnahmen ohne die EU und die dritte Säule nationale Massnahmen.

17. April 2021: Die Wirtschaftsdachverbände Economiesuisse und Schweizerischer Arbeitgeberverband fordern vom Bundesrat, dass er die noch offenen Punkte mit der EU-Spitze rasch klärt. Es sei im Interesse des ganzen Landes, den bilateralen Weg für die Zukunft zu sichern.

18. April 2021: Bundespräsident Guy Parmelin hat es nach eigenen Worten beim geplanten Treffen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Brüssel nicht auf einen Paukenschlag abgesehen. «Ich werde nicht Boris Johnson spielen», sagte Parmelin in einem Interview mit der Westschweizer Sonntagszeitung «Le Matin Dimanche». Der Bundesrat prüfe «seit langem» Alternativen für den Fall, dass eine Einigung mit der EU über ein institutionelles Rahmenabkommen scheitere.

19. April 2021: Der Schweizerische Städteverband verlangt von Bundesrat einen raschen Entscheid zum Rahmenabkommen. Die Städte seien als Zentren für Wirtschaft, Bildung, Forschung und Kultur auf gute und stabile Beziehungen mit der EU angewiesen.

20. April 2021: Vor dem Treffen von Bundespräsident Guy Parmelin mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 23. April gibt ein Sitzungsprotokoll Aufschluss über die Stimmung in der EU. Demnach will die EU von der Schweiz ausgehende Impulse und sieht die Schuld für ein mögliches Scheitern des Rahmenabkommens bei der Schweiz.

23. April 2021: Die Gespräche müssten weitergehen, sagt Jean-Claude Juncker, früherer EU-Kommissionspräsident, in einem Interview mit den Tamedia-Zeitungen vor dem Treffen seiner Nachfolgerin Ursula von der Leyen und Bundespräsident Guy Parmelin. Beim Rahmenabkommen brauche es eine Einigung. Die Debatte über einen Abbruch der Verhandlungen gebe es in der EU nicht. «Die Europäische Kommission verlässt nie den Verhandlungstisch.»

23. April 2021: Bundespräsident Guy Parmelin trifft in Brüssel EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu Gesprächen auf höchster Ebene über das Rahmenabkommen Schweiz-EU. «Wir konnten keine Fortschritte erzielen», konstatierte Parmelin danach.