Geschäfte mit Russland Schweizer Firmen landen in der «Halle der Schande»

Von Andreas Fischer

23.3.2022

Viele Unternehmen haben sich aus Russland zurückgezogen. Andere wollen bleiben und werden dafür kritisiert. Wie sollten sich Schweizer Firmen verhalten? Das kommt auf die Branche an, sagt ein Experte.

Von Andreas Fischer

23.3.2022

«Wir sind dankbar, dass Sie uns unterstützen und nicht abseitsstehen», sagte Wolodymyr Selenskyj, als er sich am Sonntag per Videoschalte an die Teilnehmenden einer Kundgebung auf dem Berner Bundesplatz wendete. Der ukrainische Präsident kritisierte aber auch, dass Schweizer Unternehmen weiterhin Geschäfte in Russland tätigen, und erwähnte dabei explizit den Nahrungsmittelkonzern Nestlé.

Der Slogan von Nestlé, einer Schweizer Firma, laute «Gutes Essen, gutes Leben», sagte Selenskyj. Und dieses Unternehmen wolle Russland nicht verlassen. «Geschäfte in Russland funktionieren, obwohl unsere Kinder sterben und unsere Städte zerstört werden.»

Während andere Firmen ihr Russland-Geschäft komplett einstellen, liefert der weltgrösste Nahrungsmittelmulti nach wie vor Grundnahrungsmittel nach Russland – und produziert auch vor Ort: Ist es richtig, was Nestlé macht? Oder wäre der vollständige Rückzug von Nestlé aus Russland angebracht?

Nahrungsmittel sind nicht kriegsrelevant

Laurent Goetschel, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Basel und Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung – swisspeace, sagt im Gespräch mit blue News: «Es liegt im Ermessen eines solchen Unternehmens, was es machen will und was nicht – solange die wirtschaftlichen Aktivitäten nicht unter die Sanktionen fallen.» Schliesslich seien die geschäftlichen Aktivitäten des Konzerns «nicht direkt kriegsrelevant».

Goetschel findet nicht, «dass ein Unternehmen wie Nestlé den Rückzug vom russischen Markt antreten sollte. Sie produzieren weder Eliteprodukte noch Waffen – es geht wirklich um die Grundversorgung.» Ähnlich argumentiert Nestlé selbst und weist die Kritik Selenskyjs zurück. Man wolle die Grundnahrungsmittel bereitstellen, andere Aktivitäten wie Werbung und Investitionen habe man hingegen eingestellt. Zudem habe man eine Verantwortung für mehr als 7'000 Mitarbeitende.

Für die NGO Public Eye, die laut eigener Aussage dort «aktiv wird, wo Wirtschaft und Politik Menschenrechte in Gefahr bringen», sind diese Argumente scheinheilig. «Schweizer Agro-Food-Multis wie Nestlé tun sich sowohl mit der Transparenz über ihre Geschäftstätigkeiten in Russland als auch mit einer klaren Positionierung schwer», heisst es auf Anfrage von blue News in einer Stellungnahme. Begründet werde «diese zögerliche Haltung gern mit der Verantwortung gegenüber den lokalen Angestellten sowie dem Recht auf Nahrung der russischen Bevölkerung».

Dies seien zwar «nachvollziehbare Argumente. Aber wenn der Absender dieser Botschaft ausgerechnet der grösste Schweizer Agro-Food-Multi ist, dessen Geschäftsmodell weltweit immer wieder zu Menschen- und Arbeitsrechtsverletzungen führt, entbehrt es nicht eines gewissen Zynismus, dass sie ausgerechnet jetzt ihre humanitäre Ader entdecken.»

Eine Demonstrantin hält an einer Kundgebung in Bern am Samstag, 19. März, ein Transparent hoch, das unter anderen auch Schweizer Firmen zum Rückzug aus Russland auffordert.
Eine Demonstrantin hält an einer Kundgebung in Bern am Samstag, 19. März, ein Transparent hoch, das unter anderen auch Schweizer Firmen zum Rückzug aus Russland auffordert.
Bild: Keystone

Die Bevölkerung nicht als Geiseln nehmen

Laurent Goetschel hingegen kann die Argumentation der Konzernführung von Nestlé verstehen. Er sagt: «Es kann in einem solchen Konflikt nicht darum gehen, dass man die gesamte Bevölkerung bestraft – vor allem nicht in einem Land, in dem die Demokratie zu einem grossen Teil nicht funktionsfähig ist.»

Der Friedens- und Konfliktforscher weiss aber auch, dass es «jenseits des Rechtlichen natürlich auch um die Imagefrage geht». Das sei für einen Konzern wie Nestlé, der für den breiten Markt produziert, durchaus ein ernstzunehmender Faktor. Grundsätzlich wäre es aufgrund der Russland-Geschäfte denkbar, «dass es in der Schweiz und in anderen Märkten Boykottbewegungen geben könnte».

Käme es dazu, ist sich Goetschel sicher, dass die Unternehmensspitze relativ schnell überlegen würde, was die Kosten und der Ertrag eines Verbleibs in Russland seien. Doch «aus reinen Imageüberlegungen abzuziehen und die Bevölkerung als Geisel zu nehmen, fände ich zum jetzigen Zeitpunkt unter ethischen Gesichtspunkten sehr zweifelhaft».

Insgesamt rund 50 Firmen in der «Halle der Schande»

Nestlé ist nicht die einzige Schweizer Firma, die noch in Russland geschäftet. Unter anderem sind auch Credit Suisse und Geberit dort weiterhin aktiv. Sie finden sich sogar in einer «Hall of Shame», auf Deutsch «Halle der Schande», wieder. So nennt der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Jeffrey Sonnenfeld die entsprechende Kategorie einer expliziten Auflistung.

In der Excel-Tabelle listet der Professor von der Yale School of Management um die 500 Firmen und Organisationen aus aller Welt auf, von denen bekannt ist, wie sie ihre Russland-Geschäfte handhaben. 380 dieser Unternehmen haben mit Stand 22. März ihre Aktivitäten in Russland ganz oder teilweise eingestellt oder sich zurückgezogen. Um die 50 «kaufen sich Zeit», indem sie zumindest erst einmal keine neuen Investitionen tätigen oder Werbung schalten.

In der letzten Kategorie, der «Hall of Shame», schliesslich finden sich 33 grosse Unternehmen, die auf Forderungen nach einem Rückzug aus dem Russland-Geschäft nicht eingehen wollen. Darunter befindet sich auch die  Credit Suisse und Sanitärhersteller Geberit.

Banken «überdenken» ihr Engagement

Von blue News konkret auf die Liste angesprochen, verweisen die Banken auf frühere Medienmitteilungen. Bei der Credit Suisse heisst es: «Die Credit Suisse hat mit ihrem Standort in Moskau eine physische Präsenz in Russland. Dort sind rund 125 Mitarbeitende im Wealth Management und in der Investmentbank angestellt, die in den Bereichen Front Office und Corporate Functions tätig sind. Ihre Sicherheit und ihr Schutz haben für uns oberste Priorität. Wir beobachten die Situation täglich und haben bereits Pläne für mögliche Szenarien erarbeitet.»

Mediensprecherin Simone Meier verweist zudem auf ein Statement von Thomas Gottstein. Der CEO der Credit Suisse sagte vorige Woche: «Wir überprüfen jetzt die Situation. Es ist eine sehr ernste Situation. Wir werden in den kommenden Monaten sehen, was das für unsere Arbeit bedeutet. Ich habe noch keine Entscheidung getroffen.»

NGO fordert «verstärkte Sorgfaltsprüfung»

Geberit ist es laut Mediensprecher Roman Silber bezüglich «unserer Aktivitäten in Russland» wichtig klarzustellen, «dass wir unsere Geschäftsaktivitäten seit letzter Woche deutlich reduziert haben». Neben der strikten Einhaltung der Sanktionen habe man bewusst das Geschäft mit Premiumprodukten und im Luxussegment ausgesetzt.

«Auch von Neugeschäften, zum Beispiel mit Neukunden im Gross- oder Einzelhandel, sehen wir bis auf Weiteres ab. Die Marketingaktivitäten werden entsprechend sistiert», heisst es in einer schriftlichen Antwort. Man wolle die weitere Entwicklung genau beobachten und «unsere Entscheidung für das Russland-Geschäft kontinuierlich überprüfen».

Für Public Eye sollten solche Überprüfungen selbstverständlich sein. «Bei Geschäftstätigkeiten in und mit Ländern, die sich in kriegerischen Auseinandersetzungen befinden, braucht es neben Transparenz und einer klaren Positionierung zwingend eine verstärkte Sorgfaltsprüfung.» Dies, «um die Einhaltung der Menschenrechte sicherzustellen und zu verhindern, dem russischen Regime wirtschaftlich und innenpolitisch in die Hände zu spielen». Im Fall eines Rückzugs, fordert die NGO, müssten die Unternehmen Massnahmen ergreifen, «um die Auswirkungen für ihre Beschäftigten vor Ort zu mildern».

Korrigendum: In einer früheren Version dieses Artikels hiess es, dass die Raiffeisen Bank International (RBI) ebenfalls eine Schweizer Bank mit Geschäftstätigkeit in Russland sei. Dies ist nicht korrekt. Wir haben die entsprechenden Passagen im Text entfernt und bitten um Entschuldigung.