Gewaltprävention in Asylzentren «Seelsorger sind keine Radikalisierungs-Detektive»

SDA/lpe

31.1.2022 - 14:31

Die Mehrheit der Asylbewerber*innen und -bewerber in der Schweiz hat einen muslimischen Hintergrund. (Archivbild)
Die Mehrheit der Asylbewerber*innen und -bewerber in der Schweiz hat einen muslimischen Hintergrund. (Archivbild)
KEYSTONE/Ti-Press/Francesca Agosta)

Wiederholt ist es in Bundesasylzentren zu Gewaltausbrüchen gekommen. Der Bund hat unter anderem mit einem Testangebot der muslimischen Seelsorge darauf reagiert – mit Erfolg: Die Nachfrage und Wertschätzung ist gross. 

Keystone-SDA, SDA/lpe

Die Mehrheit der Asylsuchenden in der Schweiz stammen aus muslimisch geprägten Ländern wie Afghanistan, dem Irak oder der Türkei. Bis sie ihren Asylentscheid erhalten, leben sie meist in Asylzentren auf kleinstem Raum – verschiedenste Lebensformen und Weltansichten treffen hier aufeinander, viele Menschen haben Traumatisches erlebt. Das Konfliktpotenzial ist gross.

Immer wieder stehen die Bundesasylzentren wegen der Umstände in der Kritik: Letztes Jahr machte Amnesty International mehrere Fälle publik, in der es zu Missbrauch und Gewalt vonseiten des Sicherheitspersonals gekommen sein soll. In einer anschliessenden externen Untersuchung von Alt-Bundesrichter Niklaus Oberholzer Ende des Jahres wurde kein Problem der systematischen Gewalt festgestellt



Das Staatssekretariat für Migration versucht jedoch seither mit verschiedenen Massnahmen, die Situation in den Asylzentren zu entschärfen. Eine Massnahme: Ein Angebot der muslimischen Seelsorge, das jenes der Landeskirchen ergänzt.

Bisher fehlten religiöse Ansprechpartner für muslimische Asylsuchende, seit vergangenem Jahr sind nun vier muslimische Seelsorger und eine Seelsorgerin in Teilzeit in acht Bundesasylzentren unterwegs – das Pilotprojekt hat Erfolg, wie eine externe Evaluation zeigt. 

Das neue Angebot sei sehr offen aufgenommen worden, sagt Hansjürg Schmid, Direktor des Schweizerischen Zentrums für Islam und Gesellschaft (SZIG), welches die Untersuchung durchgeführt hat.

Die Nachfrage sei sehr gross, die zeitlichen Ressourcen hingegen klein. Das Angebot würde einerseits gern von Asylsuchenden in Anspruch genommen. Andererseits seien sie angesichts ihrer religiösen, kulturellen und sprachlichen Kompetenzen wertvolle Ansprechpartner für das in den Bundesasylzentren tätige Betreuungs-, Sicherheits- und Pflegepersonal.

Die befragten Personen hätten einstimmig die Seelsorge als nützlich eingeschätzt, sagt Schmid am Mediengespräch. «Das Zusammenleben hat sich dadurch merklich entspannt», als externe Person könnten die Seelsorgenden zur Deeskalierung gewisser Situationen beitragen, so die Bilanz. 

Orientierung für Menschen, die sie verloren haben

Die Seelsorgenden wirken dabei vielfältig, wie zwei von ihnen am Mediengespräch erzählen. Er sei Support, Mediator und Vermittler, sagt Mohamed Batbout, der als muslimischer Seelsorger in der französischsprachigen Schweiz unterwegs ist. Es gehe darum, Orientierung zu bieten, die viele Menschen verloren hätten.

Rituelle Handlungen stünden nicht im Zentrum, sagt auch Seelsorgerin Belkis Osman, die im Bundesasylzentrum Zürich arbeitet, sie könnten vielfach den Menschen mithilfe ihres Gottesverständnisses neue Perspektiven aufzeigen. Junge Menschen suchten zudem häufig nach Anerkennung. Dies könne sie ihnen bieten, indem sie bei ihnen vorbeischaue und sie frage, wie es ihnen geht. Dies komme im Alltag meist zu kurz. Die gemeinsame Religion und Sprache könne hier helfen, das Vertrauen zu fördern und zu sichern. 



Situation hat sich bereits entschärft

Die Arbeit der Seelsorgenden wirkt auch präventiv, sagt Hansjürg Schmid. Die Situation der Geflüchteten könne sie zum Beispiel ansprechbarer für radikale Positionen machen. «Die Seelsorger vertreten einen Islam, der mit den Schweizer Verhältnissen kompatibel ist.»

Indem sie Raum bieten für die Diskussion von religiösen Fragen, könnten sie Radikalisierungen sicherlich vorbeugen.  «Die Seelsorger sind jedoch keine Radikalisierungdetektive», sagt Hansjürg Schmid, die Prävention von Radikalisierungen und Gewalt stehe auch nicht im Vordergrund. 

Dies betont auch Eric Kaser, Co-Leiter der Sektion Unterbringung und Projekte des Staatssekretariats für Migration (SEM). Die Situation in den Bundesasylzentren habe sich seit letztem Jahr entschärft, «die muslimische Seelsorge war aber nur ein Mosaikstein von vielen».   

An der muslimischen Seelsorge will man festhalten: Das Pilotprojekt wird bis Ende 2022 verlängert, dann soll es in «Regelstrukturen» überführt werden. Die Finanzierung ist jedoch noch unklar. Die Überlegungen, wie die Verstetigung des Projekts danach aufgebaut werden kann, liefen mit Hochdruck, sagt Kaser. Er sei zuversichtlich, dass ein Weg gefunden werden kann, «insbesondere, wenn die Rückmeldungen so positiv bleiben».

Die SZIG-Studie empfiehlt zudem angesichts der grossen Nachfrage, das Zeitbudget für die muslimische Seelsorge zu erhöhen. Das SEM hat bereits begonnen, das Angebot auszubauen: Ab morgen sind neu auch Seelsorger im Tessin und in der Zentralschweiz tätig, auch in den anderen Regionen werde das zeitliche Engagement der Seelsorgenden erhöht. «Wir hoffen, damit die hohe Nachfrage adäquat beantworten zu können», sagt Kaser.