Stimmrecht für Behinderte«Ich finde es ungerecht, dass einige meiner Kolleginnen nicht mitmachen dürfen»
Von Alex Rudolf
7.6.2021
Soll Menschen mit einer kognitiven Behinderung das aktive und passive Wahlrecht sowie das Stimmrecht auf nationaler Ebene erteilt werden? Mit dieser Frage beschäftigt sich der Ständerat am Dienstag. Dass man beeinträchtigt und politisch sein kann, zeigt Schauspielerin Caitlin Friedly.
Von Alex Rudolf
07.06.2021, 23:30
08.06.2021, 13:05
Alex Rudolf
Caitlin Friedly interessiert sich für das Weltgeschehen. «Besonders der Klimawandel und LGBT-Themen sind mir wichtig», sagt sie. Die 23-Jährige ist kognitiv beeinträchtigt, ihr Zustand nennt sich Williams-Syndrom. «Manchmal kann ich Dinge nicht so schnell lernen wie andere. Dafür bin ich sehr musikalisch», sagt sie.
Seit fünf Jahren ist Friedly Ensemblemitglied beim Theater Hora, wo Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung gemeinsam Stücke entwickeln und aufführen. Friedly und ihre Kolleg*innen aus dem Theater blicken heute Dienstag mit grosser Spannung nach Bern.
Update: Ständerat gibt grünes Licht für Vorstoss
An seiner Sitzung von heute Dienstag beschloss der Ständerat, dass der Bundesrat einen Bericht erstellen soll, wonach Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung uneingeschränkte politische Rechte erhalten sollen. Dafür hat er zwei Jahre Zeit. Braucht er länger, muss der Bundesrat jährlich einen Bericht über den aktuellen Stand der Dinge vorlegen.
Dann nämlich behandelt der Ständerat zwei Vorstösse, die verlangen, dass Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung das Stimm- und Wahlrecht auf nationaler Ebene erhalten sollen. Als Vorbild gilt der Kanton Genf. Dort nahmen die Stimmberechtigten im vergangenen November eine entsprechende Vorlage mit einem 75-Prozent Ja-Anteil an.
Der kategorische Ausschluss von Menschen mit Behinderung sei nicht in Einklang mit den Grundrechten der Schweizer*innen zu bringen, schreibt etwa Ständerätin Elisabeth Baume Schneider (SP/JU). Sie reichte einen der Vorstösse ein.
«Wir haben bei uns in der Gruppe einige, die stimm- und wahlberechtigt sind, davon aber keinen Gebrauch machen und die Unterlagen gleich in den Abfall schmeissen.»
Dabei lässt sich der Kreis der kognitiv Beeinträchtigten nicht über einen Kamm scheren, da die Ausprägungen sehr unterschiedlich sein können. Dies gilt auch für das Interesse an Politik. «Wir haben bei uns in der Gruppe einige, die stimm- und wahlberechtigt sind, davon aber keinen Gebrauch machen und die Unterlagen gleich in den Abfall schmeissen», sagt Amadea Schütz.
Die Theaterpädagogin betont, dass es aber auch die anderen gebe, jene wie Friedly. Sie hat das Glück, stimm- und wahlberechtigt zu sein. «Seit der Wahl Obamas interessiere ich mich für Politik», sagt sie begeistert. Sie findet es ungerecht, dass einige von ihren Kolleg*innen nicht bei der Politik mitmachen dürfen.
Flickenteppich: Nicht nur unter den Kantonen, auch im Theater Hora
Für den Bundesrat steht fest, dass er zuerst eine Auslegeordnung machen muss, bevor politisch etwas passiert, wie er in seiner Stellungnahme schreibt. Wer heute in der Schweiz als dauerhaft urteilsunfähig gilt oder einen umfassenden Beistand braucht, ist in der Regel vom Stimmrecht sowie vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen.
In der Praxis führt dies zu einem Flickenteppich. Nicht nur unter den Kantonen, sondern auch im Theater Hora. «Es gibt jene, die sich eine eigene Meinung bilden können, aber nicht abstimmen und wählen gehen dürfen, aber auch das Gegenteil davon», sagt Schütz. Eine deutliche Linie erkenne man nicht.
Theater Hora
Das 1993 gegründete Theater Hora in Zürich ist das einzige professionelle Theater der Schweiz, bei dem die Mitglieder des Ensembles eine kognitive Beeinträchtigung haben. Neben Theater- und Tanzprojekten erarbeiteten die Macher auch verschiedene Hörspiele. In seiner 28-jährigen Geschichte erhielt das Theater bereits verschiedene Preise – unter anderem den Hans-Reinhart-Ring des Schweizer Theater-Grand-Prix. Zu den bereits realisierten Stücken gehören unter anderem «Warten auf Godot», «Faust I und II» sowie «Disabled Theater».
Dass der Bundesrat vorwärtsmachen soll, verlangt auch Inclusion Handicap, Dachverband der Schweizer Behindertenorganisationen. Die beiden Vorstösse begrüsse man zwar sehr, wie Präsidentin und Ständerätin Maya Graf (Grüne/BL) auf Anfrage sagt. «Doch ratifizierte die Schweiz die UNO-Behindertenkonvention bereits 2014. Darin steht, dass kognitiv Beeinträchtigten die politische Teilnahme ermöglicht werden soll», so Graf.
In seiner Stellungnahme zu Baume Schneiders Vorstoss verweist der Bundesrat aber darauf, dass ein Entzug der politischen Rechte nicht mit der Konvention breche. Beispielsweise, wenn Beeinträchtigte trotz gebotener Unterstützung keinen eigenständigen Willen bilden können.
Kontrolle ist auch bei nicht Beeinträchtigten schwierig
Auch betont der Bundesrat, dass es eine Herausforderung sei, die politischen Rechte der Beeinträchtigten vor Missbrauch zu schützen. Graf habe diese Bemerkung irritiert. «Ein Recht ist ein Recht. Warum zuerst an Missbrauch denken? Heute wird ja auch niemand beim Ausfüllen des Wahl- oder Abstimmungscouverts von der Polizei beaufsichtigt», sagt sie. Dennoch: Die Signale aus anderen Kantonen stimmen sie zuversichtlich. «Nicht nur in Genf, sondern auch in der Waadt, im Wallis und in Zürich laufen vergleichbare Verfahren.»
Baume Schneider beschreibt die Antwort der Regierung als zufriedenstellend, aber sehr zurückhaltend bezüglich der politischen Rechte. «Nun sollen die Erfahrungen aus den Kantonen zeigen, was möglich ist. Der Bundesrat könnte sich anschliessend davon inspirieren lassen», sagt sie auf Anfrage.
Fest steht: Die Bundesverfassung müsste angepasst werden, damit der Stimmrechtsausschluss abgeschafft würde. Ob eine solche Rechtsänderung zweckmässig wäre, so der Bundesrat, solle die Bestandesaufnahme zeigen.
«Wir sollten mehr Geld verdienen dürfen»
Ginge es nach Friedly, würde sich in der Schweizer Politik so einiges verändern. Sie würde sich etwa für das bedingungslose Grundeinkommen einsetzen. «Auch sollten wir Menschen mit Beeinträchtigung mehr Geld verdienen dürfen, damit wir besser leben können.»