Erziehung Seltsame Machenschaften stellen Kinderheim in schiefes Licht

sob

14.1.2020

Im Dezember nach Kriegsende 1945 nimmt die Schweiz 300 Kriegswaisenkinder aus Polen und Ungarn vorübergehend auf. Die ersten Kinder treffen auch im Kinderheim Bellavista in Sumiswald BE ein und verbringen dort einen sechsmonatigen Erholungsaufenthalt. (Symbolbild)
Im Dezember nach Kriegsende 1945 nimmt die Schweiz 300 Kriegswaisenkinder aus Polen und Ungarn vorübergehend auf. Die ersten Kinder treffen auch im Kinderheim Bellavista in Sumiswald BE ein und verbringen dort einen sechsmonatigen Erholungsaufenthalt. (Symbolbild)
Keystone

Buben, Mädchen, Betreuer und Betreuerinnen schlafen alle im gleichen Massenlager. Und wer abends zu spät ist, bekommt nichts Warmes mehr zu essen. Das St. Galler Kinderheim Speerblick ist in der Kritik.

Das Winterlager im letzten Januar brachte das Fass zum Überlaufen. Denn Kinder und Betreuer schliefen im selben Raum – trotz Protesten von Betreuern und Eltern. Aber das Kinderheim Speerblick in Uznach SG wird nicht nur deshalb kritisiert. Vielmehr ist es eine ganze Reihe von eher unüblichen Machenschaften, die Eltern, ­Jugendliche und ehemalige Betreuer auf die Barrikaden treiben. Sie erzählen von einer angespannten Stimmung, zahlreichen Kündigungen und einem teils fragwürdigen Umgang mit den Kindern und Jugendlichen.

Ziel: Erlebnis statt Konsum

Mitarbeitende zweifelten damals, ob ein Winterlager unter solchen Umständen überhaupt zulässig sei. «Aber alle Bedenken wurden unter den Tisch gewischt», sagt eine ehemalige Betreuungsperson. «Kinder, die sich davor fürchteten, wurden nicht ernst genommen.» Das Lager dauerte eine Woche. Ziel: Erlebnis statt Konsum. Ort: ein abgelegenes Maiensäss ohne Strom, ohne fliessend Wasser, ohne Handyempfang – und mit nur einem Massenschlag als Schlafraum.

Der «Tages-Anzeiger» hat mehrere unabhängige Fachleute auf das Lager angesprochen. Die meisten zeigen sich irritiert. André Woodtli, Chef der Heimaufsicht im Kanton Zürich, sagt: «Dass Betreuer und Kinder beiderlei Geschlechts in einem Raum schlafen, ist sehr erklärungsbedürftig. Man muss immer davon ausgehen, dass Kinder darunter sind, die Missbrauch erlebt haben.» Auch Barbara Friberg, Leiterin der Kesb Linth, in deren Einzugsgebiet der Speerblick liegt, findet die Übernachtung im Massenschlag «nicht optimal».

Kanton hatte keine Einwände

Die Heimleiterin verweist auf Anfrage auf Matthias Dürr, den Präsidenten des Trägervereins. Dieser verteidigt das Winterlager: «Ich war begeistert von der Idee.» Dass eine Übernachtung im Massenschlag «heikel» sei, sei allen Beteiligten bewusst gewesen: «Wir haben deshalb bei der Heimaufsicht des Kantons St. Gallen nachgefragt und das Okay erhalten.» Zuständig ist die Abteilung für Kinder und Jugend im Sozialamt. Abteilungsleiter, Roger Zahner, bestätigt: Der Kanton hatte keine Einwände.

Zahner und Dürr verweisen darauf, dass das Lager freiwillig gewesen sei. Bei den Eltern kam diese Information offenbar nicht an. «Ich war nicht einverstanden, aber es hiess, das Lager sei für die jüngeren Kinder obligatorisch», sagt eine Mutter. Auch ehemalige Betreuer sagen, freiwillig sei das Lager nur für die Jugendlichen gewesen. Und die wollten nicht mit.

Nichts Warmes mehr zu essen

Zu reden gibt auch das neue Ernährungskonzept. Matthias Dürr spricht von einer gesünderen, leichteren Verpflegung am Abend: Café complet, ergänzt mit Salat, manchmal Suppe, Pizza oder Pasta. Die Teenager klagen, sie würden nicht mehr satt. Wer wegen eines Schulanlasses oder des Sporttrainings spät heimkomme, gehe leer aus. Dürr widerspricht: «Jeder wird satt, jeder bekommt genug. Ausnahme: Es kann mal sein, dass jemand nachträglich nichts Warmes mehr bekommt, wenn er das Nachtessen schwänzt. Der Speerblick legt viel Wert auf das gemeinsame Nachtessen.»

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