Sondersession «Die Schweiz ist nicht unverwundbar»

Von Anna Kappeler

4.5.2020

Zurück an die Arbeit, heisst es nach der Corona-bedingten Pause heute für das Parlament. Doch nicht im Bundeshaus, sondern in den funktionalen Hallen der Berner Expo. Eindrücke von einem Tag, der «in die Geschichte eingehen wird».

Es ist kurz vor halb 11 Uhr, als Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga vor dem Nationalrat sagt: «Unser Land wurde hart getroffen durch das Coronavirus. Die Schweiz ist nicht unverwundbar.» Die Pandemie habe das Parlament auf die Zuschauerränge verdrängt. Nun könne es an einem neuen Ort die Arbeit wieder aufnehmen. «Das kann auch eine Chance sein», so Sommaruga.

Einige Stunden zuvor ist das Bundeshaus an diesem Tag nur kurz von Weitem durch das Tramfenster zu sehen gewesen. Stattdessen geht die Fahrt über die Brücke auf die andere Aareseite und weiter bis zur Berner Expo. Hinten aus dem Tram steigen die beiden SP-Nationalräte Samira Marti (BL) und Fabian Molina (ZH), einige Türen weiter vorn folgen Jacqueline Badran (SP/ZH) und Balthasar Glättli (Grüne/ZH), wobei wir bei Glättli dreimal hinschauen müssen, da er eine Gesichtsmaske trägt. Und ganz vorn steigen Markus Ritter (CVP/SG) und Doris Fiala (FDP/ZH) aus.

Vorbei an Polizisten und Kameras der Medien bahnen sich die Parlamentarierinnen und Parlamentarier mitsamt ihren Rollkoffern einen Weg zur Messehalle und verschwinden durch den Haupteingang im Inneren des Gebäudes.



Medienschaffende mit einem Dauerausweis (C1-Badge) – nicht Fest-akkreditiere haben in der Sondersession keinen Zutritt –, laufen eine Rampe hinunter und gehen beim Lieferanteneingang durch die Sicherheitskontrolle. Diese hat es in sich: Sie piepst wie wild. Also breitbeiniges Hinstellen mit von sich gestreckten Armen für die Fein-Körperkontrolle.

Doch Entwarnung.

Der BH war es, der piepste, sowie kleine Knöpfe am Hosenbein. «Wir brauchen weniger sensible Kontrollen», sagt das Sicherheitspersonal zueinander.

Graue Farbe statt Wandelhalle

Drinnen ist alles funktional. Grau ist die dominierende Farbe – sowohl beim Fussboden wie auch bei Wänden und Decken. Macht ja auch Sinn, schliesslich werden hier sonst Messen abgehalten.

Für die Medien wurde im UG ein Raum mit durch Holzwänden abgetrennten Arbeitsplätzen eingerichtet. Eine Wandelhalle gibt es nicht, deshalb verfolgen rund ein Dutzend Medienschaffende – mit gebührendem Sicherheitsabstand zueinander – hier auf einem Bildschirm die Eröffnungsrede von Nationalratspräsidentin Isabelle Moret (FDP/VD).

Medienschaffende verfolgen mit gebührendem Sicherheitsabstand zueinander die Sondersession in der Messe Bern.
Medienschaffende verfolgen mit gebührendem Sicherheitsabstand zueinander die Sondersession in der Messe Bern.
Bild: aka

Moret: «Session wird in Geschichte eingehen»

«Diese Session wird in die Geschichte eingehen», sagt Moret, als sie die ausserordentliche Session eröffnet. Es hallt etwas, während sie es sagt. Nun stehe in beiden Kammern die Genehmigung der vom Bundesrat vorgesehenen dringlichen Kredite auf dem Programm, so Moret weiter. 

Die Fraktionen haben danach das Wort – und zwar in der Reihenfolge ihrer Grösse, wie das Büro entschieden hat. Will jemand das Wort ergreifen, hat sie oder er vor der Treppe zur Tribüne zu warten.



Es stehen drei Rednerpulte zur Verfügung,so kann das eben benutzte nach jeder Rede desinfiziert werden. Eine Stoppuhr zeigt die Redezeit an – das Glöcklein, mit dem Moret gern und oft zur Ruhe mahnt, steht wie gewohnt auf dem Pult. Sie dürfte es allerdings weniger oft brauchen als im für seinen Lärmpegel bekannten Nationalratsaal. Allein der Abstand zum Sitznachbarn von gut zwei Metern dürfte hier Zwischengespräche erschweren.

Leere statt Gewusel

Wir nehmen gegen Mittag die Rolltreppe und fahren zwei Stockwerke nach oben vor den Nationalratssaal. Unterwegs begegnen wir – keiner Menschenseele. Was für ein Kontrast zu einer Session im Bundeshaus mit den unzähligen Besuchern.

Wie im Bundeshaus haben Medienschaffende auch hier keinen Zutritt zu den Ratssälen. Weit vorn sehen wir die Nationalratspräsidentin sitzen – der Raum ist tatsächlich um ein Vielfaches grösser als unter der Bundeshauskuppel. Sandra Sollberger (SVP/BL) hat ja auch bereits scherzeshalber zum Feldstecher gegriffen.

Nationalrätin Sandra Sollberger (SVP/BL) mit Feldstecher in der Bernexpo.
Nationalrätin Sandra Sollberger (SVP/BL) mit Feldstecher in der Bernexpo.
Bild: Keystone

Mangels Gesprächspartner fahren wir noch einen Stock hinauf. Hier tagt ab 14 Uhr der Ständerat. Er dankt zum Sitzungsauftakt dem Bundesrat für seine Arbeit in den vergangenen Wochen mit einem kurzen Applaus. «Die per Notrecht ergriffenen Massnahmen haben gegriffen», findet Ratspräsident Hans Stöckli (SP/BE).

«Uns geht es verglichen mit anderen gut»

Auf diesem Stock gibt es eine Begegnungszone für Politiker und Journalisten – für Interviews. Einzelne Stehtische stehen dafür zur Verfügung. Wir gehen weiter und betreten die riesige Raucherterrasse, blinzeln in die Sonne und sehen gähnende Leere. Als wir schon wieder ins Innere wollen, kommt uns eine Mitarbeiterin der «Galerie des Alpes», dem Grand Café im Bundeshaus, entgegen.

Gähnende Leere auf der riesigen Raucherterrasse der Bernexpo am Montagmittag.
Gähnende Leere auf der riesigen Raucherterrasse der Bernexpo am Montagmittag.
Bild: aka

Sie freue sich sehr, wieder ausserhalb des Homeoffice arbeiten zu dürfen und geniesse die persönlichen Begrüssungen der Parlamentarier, sagt sie. Man kenne sich nach Jahren im Bundeshaus. «Hier aber ist alles gewöhnungsbedürftig. Sie habe sich auch schon verlaufen auf den langen Gängen. «Aber ich will nicht klagen, uns geht es verglichen mit anderen gut», sagt sie und zieht an der Zigarette.

«So absurd viel Geld übersteigt die Vorstellungskraft»

Und was halten die Politikerinnen und Politiker von der neuen Umgebung? «Viel mehr als die grauen Wände in der Messehalle beelendet mich die Tatsache, dass wir über Ausgaben und Kredite von über 55 Milliarden Franken entscheiden müssen», sagt Nationalrat Mike Egger (SVP/SG). «Rechnet man die möglichen Mehrbelastungen der Arbeitslosenversicherung ein, könnte sich der Betrag nahezu verdoppeln.» Das sei so absurd viel Geld, es übersteige die Vorstellungskraft.

«Ich hatte deswegen ein wirklich schlechtes Wochenende.» Es gelte nun genau hinzuschauen, welche Ausgaben und Kredite wirklich nötig seien, und wo gespart werden könnte. «Gerade wir Jungen zahlen sonst bis zu unserer Pensionierung Schulden ab», sagt Egger.

Nationalrat: 100 Millionen für die Kitas

Gegen 16.30 Uhr entscheidet der Nationalrat – gegen den Wunsch des Bundesrates –, dass Kitas mit 100 Millionen Franken unterstützt werden sollen. Dies gar nicht zur Freude von Egger: «Das liegt nicht in der Kernkompetenz des Bundes, sondern in der Kompetenz der Kantone.»

Anders klingt es bei Samira Marti (SP/BL), sie ist froh um die Unterstützung: «Die Krise hat gezeigt, dass Kinderbetreuung eine gesellschaftliche Aufgabe ist, die in die Volksschule integriert gehört», sagt sie. Als Nächstes befindet der Ständerat über den Kredit.

In den neuen Räumlichkeiten müssten sich alle nun erst einmal zurechtfinden, es sei schon anders, sagt Marti weiter. Ihre Erkenntnis des Tages ist : «In Genf stehen 2'500 Menschen stundenlang für eine Tasche mit Essen an. In der reichen Schweiz.» Es brauche dringend eine Taskforce Armut – die bürgerliche Mehrheit interessiere sich aber «leider nicht für die Menschen am Rand der Gesellschaft».

«Zeit, dass Parlament wieder tagt»

Einig sind sich Marti und Egger darin, dass es allerhöchste Zeit sei, dass das Parlament wieder tage. «Gerade in Krisenzeiten haben wir als Parlament eine grosse Verantwortung», sagt Marti.

Auch Christa Markwalder (FDP/BE) findet trotz «trostlosem Saal»: Die Hauptsache sei es, dass das Parlament wieder tage. Die Situation sei absurd gewesen, sagt sie: «Wenn ich die Pressekonferenzen des Bundesrates geschaut habe und Fragen hatte, musste ich diese via vor Ort anwesenden Journalisten stellen lassen.»

Apropos Bundesrat: Wie hat es Sommaruga vor Stunden formuliert? «Ein kleines Virus bringt Grosses in Gefahr, unsere Grundrechte.»

Da gilt es, sich an Neues zu gewöhnen.

Bilder des Tages

Zurück zur Startseite