Bröckelnder Zusammenhalt«Solidarität ist wünschenswert, aber kein Gesetz»
Von Gil Bieler
11.12.2021
Bundesrat will 2G in Innenräumen oder Restaurant-Schliessungen
Nur eine Woche nach der Ausweitung der Masken- und Zertifikatspflicht wird schon die nächste Verschärfung der Corona-Regeln nötig. Zur Debatte steht neben schärferen 2G-Regeln auch die Schliessung von Restaurants und Bars.
10.12.2021
Je länger die Pandemie dauert, desto mehr bröckelt der Zusammenhalt. Man könne Solidarität nicht einfordern, sagt eine Dozentin der Hochschule Luzern. Trotzdem sei es legitim, mit 2G Druck auf Ungeimpfte zu machen.
Von Gil Bieler
11.12.2021, 07:35
11.12.2021, 10:26
Gil Bieler
Von einem Begriff ist im zweiten Pandemie-Winter besonders oft die Rede: von der Solidarität. Überall wird sie eingefordert, stösst aber weitherum an ihre Grenzen. Das zeigt auch eine am Freitag veröffentlichte Erhebung, die das Forschungsinstitut Sotomo für die Glückskette durchgeführt hat.
36 Prozent der Befragten sind der Ansicht, die Solidarität habe im Verlauf der Krise abgenommen. In der Deutschschweiz denken sogar 43 Prozent so. Nur 17 Prozent finden, die Solidarität habe zugenommen.
«Der Lack ist ab», sagt auch Simone Gretler Heusser, Sozialanthropologin und Dozentin an der Hochschule Luzern. Im Frühling 2020 sei die Pandemie eine neue Erfahrung für uns alle gewesen. «Es herrschte ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, im Sinne von: ‹Wir müssen jetzt zusammenstehen, gemeinsam schaffen wir das.›» Diese Stimmung sei verflogen – aus mehreren Gründen.
«Man kann ja etwas tun»
«Zum einen sind natürlich alle erschöpft und genervt», sagt Gretler Heusser zu blue News. «Zum anderen wissen wir heute auch, was jede und jeder Einzelne tun kann, um sich zu schützen und das Virus einzudämmen.» Der Grossteil der Bevölkerung trage Massnahmen wie Maskenpflicht und Zertifikatspflicht mit – «oft murrend» –, einfach weil es nötig sei.
«Wir lassen uns auch impfen, um das Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs zu reduzieren – und wünschen uns dasselbe von unseren Mitmenschen. Man kann ja etwas tun.»
Nur: Der Impfentscheid ist freiwillig, das betonen auch die Mitglieder des Bundesrats regelmässig. Gleichzeitig wächst bei vielen die Ungeduld mit den Ungeimpften – und der Druck auf sie wird erhöht. Der Bundesrat prüft jetzt, die 2G-Regel weiter auszudehnen, womit nur noch Geimpfte und Genesene Zutritt zu Innenräumen von Restaurants, Bars oder Museen hätten. Das gab er am Freitag bekannt.
Darf eine Gesellschaft einen relativ grossen Teil einfach so ausschliessen? Ja, findet die Forscherin. «2G ist angesichts der aktuellen Situation völlig angemessen.» Natürlich gelte das aber nur für den Freizeitbereich, nicht für Grundbedürfnisse wie den Lebensmitteleinkauf oder den ÖV. «Mit 2G sucht die Politik differenzierte Lösungen, um das Alltagsleben mit Einschränkungen aufrechtzuerhalten. Die Alternative wäre ja ein kompletter Lockdown.»
Es sei auch keineswegs so, dass Geimpfte keine Einschränkungen hinnehmen müssten: «Ich fand es auch angenehmer, als ich am Arbeitsplatz keine Maske tragen musste. Aber jetzt trage ich halt wieder eine.»
«Impfen ist auch ein sozialer Entscheid»
Auch eine Impfpflicht in gewissen Arbeitsfeldern wäre vertretbar, findet die Sozialanthropologin: «Wenn man etwa mit alten und gebrechlichen Menschen arbeitet, sollte es keine Frage sein, ob man sich impfen lassen sollte oder nicht.»
Der Ruf nach einer Impfpflicht etwa für die Pflegebranche wird in der Tat lauter. Dennoch tut nichts Unrechtes, wer sich gegen den Piks entscheidet. Das wirft die Frage auf: Kann man Solidarität einfordern? «Nein, das kann man nicht», sagt Gretler Heusser. «Solidarität ist zwar wünschenswert, aber kein Gesetz. Man erreicht sie auch nicht durch Zwang, sondern durch Überzeugung.» Akteur*innen aus Politik und Gesundheitswesen müssten Ungeimpften die Konsequenzen ihrer Haltung bewusst vor Augen führen.
Eine generelle Impfpflicht, wie sie Österreich plant, sieht Gretler Heusser skeptisch. Das schliesse aber nicht aus, dass man gewisse Berufsgruppen zur Impfung verpflichte: «Denn da spielt auch ein Sicherheitsaspekt mit.»
Überhaupt findet die Sozialwissenschaftlerin: Das Argument, eine Impfung sei ein rein persönlicher Entscheid, verfange nicht. «Impfen ist auch ein sozialer Entscheid. Man entscheidet auch für die Gesellschaft mit, ob das einem passt oder nicht.»