Zeugen JehovasWer dazugehört, ist gerettet, wer aussteigt, wird geächtet
Von Stefan Michel
10.3.2023
Knapp 20'000 Mitglieder zählen die Zeugen Jehovas in der Schweiz. Wer aussteigt, steht erst einmal allein da – eine Situation, mit der viele nicht zurechtkommen. Ein ehemaliges Mitglied gibt Auskunft.
Von Stefan Michel
10.03.2023, 18:02
Stefan Michel
Wer zu den Zeugen Jehovas gehört und nach deren Regeln lebt, ist gerettet und wird das Ende der Welt, das «Harmagedon», überleben. Nach dieser Überzeugung leben die Mitglieder der Glaubensgemeinschaft.
In der Schweiz gehören knapp 20'000 dieser Gruppierung an, die alle Kriterien erfüllt, um als Sekte zu gelten: Sie ist hierarchisch und nach einer strengen Doktrin geführt, ihre Mitglieder fühlen sich der Allgemeinheit moralisch überlegen und isolieren sich von dieser. Die Zeugen Jehovas gehören zudem zu den Endzeit-Gruppierungen.
Als Aussenstehender könnte man meinen, dass die Menschen glücklich aufatmen, die die Zeugen Jehovas verlassen haben. Dass dem nicht so ist, weiss Christian Rossi aus eigener Erfahrung.
Als gläubiger Jugendlicher trat er der Schweizer Gemeinde bei. 20 Jahre später hat er sie verlassen, weil er immer mehr Widersprüche, Lügen und Manipulation feststellte.
Abtrünnige sind eine Versuchung Satans
Doch die Zeit danach war ebenso schwierig. «Ich hatte Glück, denn meine Familie gehörte nicht zu den Zeugen Jehovas und blieb mir erhalten. Aber mein ganzes soziales Umfeld war weg.»
Zeugen Jehovas
Die Zeugen Jehovas wurden Ende des 19. Jahrhunderts in den USA von Charles Taze Russell (Bild) gegründet. Ihre Mitglieder pflegen eine eigene, besonders strenge Auslegung der Bibel, die ihnen beispielsweise verbietet, Bluttransfusionen anzunehmen. Immer wieder stehen die Zeugen Jehovas in der Kritik, weil sie Verdachtsfällen von Kindsmissbrauch nicht entschieden nachgehen oder sogar deren juristische Verfolgung behindern.
Der Grund dafür ist, dass die Glaubensgemeinschaft ihren Mitgliedern verbietet, Kontakt zu Aussteigern zu haben. «Eigentlich haben sie Angst vor den Abtrünnigen. Sie dürfen keine Bücher von ihnen lesen. Wenn ich am Fernsehen einen Auftritt habe, dürfen sie diesen nicht sehen. Für sie sind Abtrünnige ein Mittel Satans, sie vom rechten Weg abzubringen.» Wer sich nicht daran hält, kann selber ausgestossen werden.
Rossi studierte nach seinem Ausstieg Religionswissenschaft, Bibelwissenschaften und Psychologie. Aktuell schreibt er eine Doktorarbeit über Ostrazismus – das Prinzip der Ächtung einzelner Personen durch eine Gruppe.
Er habe Jahre gebraucht, um die Trennung von seiner Gemeinschaft zu verarbeiten. Und dies, obwohl er sich gezielt darauf vorbereitet hatte, etwa indem er sich schon vorher – heimlich – einen Freundeskreis ausserhalb der Zeugen Jehovas aufgebaut hatte.
Andere tun das nicht. Am wenigsten jene, die von ihrer Gemeinde ausgeschlossen werden. Rossi betont: «Das sind sogar mehr als jene, die aus eigenem Antrieb aussteigen und sie haben es besonders schwer, sich zurechtzufinden.»
Für die Beratungsstelle Infosekta leitet Christian Rossi eine Selbsthilfegruppe für ehemalige und ausstiegswillige Mitglieder der Zeugen Jehovas. «Je stärker jemand an die Lehre geglaubt hat, desto schwieriger ist es, sich davon zu lösen. Manche kehren schliesslich in die Gemeinde zurück.»
Die Treffen der Selbsthilfegruppe hätten an geheimen Orten stattgefunden, sagt er. Heute finden sie als Videocall statt. «Die Mitglieder sind verpflichtet, der Obrigkeit zu melden, wenn sie mitbekommen, dass jemand abtrünnig wird.» Wer das nicht tue, könne selber ausgeschlossen werden.
Auch der Attentäter von Hamburg war bis vor eineinhalb Jahren Mitglied der Zeugen Jehovas. Er sei «freiwillig, aber nicht im Guten» ausgetreten, hat der Leiter des Hamburger Staatsschutzes über ihn gesagt. Angesichts der Regeln ist ein Verlassen der Gemeinde «im Guten» gar nicht möglich.
Christian Rossi hat den Bezug zum Verlassen der Zeugen Jehovas sofort hergestellt: «Durch das Kontaktverbot können Menschen in eine schwere Not geraten», sagt er und schränkt ein, dass er die Details nicht kenne. Was er weiss: «Es gibt immer wieder ehemalige Zeugen Jehovas, die sich nach ihrem Ausstieg das Leben nehmen, weil sie sich nicht mehr zurechtfinden.»
Gefragt, was er im Umgang mit Menschen rate, die in dieser Situation sind, antwortet er: «Ihnen Gesellschaft zu leisten ist das Wichtigste. Sie brauchen ein neues Netzwerk.» Auf keinen Fall sollen Aussenstehende eine Person verurteilen, die Zeuge Jehovas war oder sich darüber lustig machen. «Aus dieser Gemeinschaft auszusteigen ist etwas ganz anderes, als aus der katholischen Kirche auszutreten.»
Suizid-Gedanken? Hier findest du Hilfe
Brauchst du Hilfe? Hier kannst du reden
Diese Stellen sind rund um die Uhr für Menschen in suizidalen Krisen und für ihr Umfeld da.
Beratungstelefon der Dargebotenen Hand: Telefon 143, www.143.ch Beratungstelefon Pro Juventute (für Kinder und Jugendliche): Telefon 147, www.147.ch