Müde Schüler, genervte LehrerWiderwillig setzt Zürich den späten Unterrichtsbeginn um
Stefan Michel
6.10.2025
Frühe Lektionen bringen bescheidenen Lernerfolg. Trotzdem tun sich Schulen schwer damit, den Unterricht später beginnen zu lassen.
Bild:Keystone
Basel hat sie vor zehn Jahren abgeschafft. Zürich beginnt jetzt mit der Umstellung: Frühlektionen sind seit langem umstritten. Doch die Schulen sehen ohne sie organisatorische Probleme auf sich zukommen.
Stefan Michel
06.10.2025, 04:30
06.10.2025, 08:46
Stefan Michel
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Wissenschaftliche Studien zeigen seit langem, dass Oberstufen-Schülerinnen in Frühlektionen weniger lernen.
Grund ist der Schlafrhythmus, der sich in der Pubertät verschiebt – bei gleich bleibendem Schlafbedürfnis.
Trotzdem tun sich Schulen schwer damit, den Unterricht auf später zu verschieben. Die Gründe sind vor allem organisatorischer Natur.
Jubeln sie noch oder gähnen sie schon wieder? Der Zürcher Gemeinderat hat einer parlamentarischen Initiative zugestimmt, die den Unterrichtsbeginn in der Oberstufe früher als um 8 Uhr untersagt.
Doch für die Zürcher Oberstufen-Schüler*innen kommt die frohe Botschaft zu spät. Die Schulen haben vier Jahre Zeit, um das Modell umzusetzen. Schöpfen sie diese Frist aus, haben bis dann selbst jene Jugendlichen die Sekundarschule abgeschlossen, die aktuell die 6. Primarklasse besuchen.
Während Jahrzehnten, vielleicht Jahrhunderten war klar: Frühes Aufstehen gehört zur Schule. Ebenso, sich gähnend in die Schule zu schleppen und in der Schulbank gegen bleischwere Augendeckel anzukämpfen.
Beschweren sich die Teenager, heisst es üblicherweise: «Das haben wir auch durchgestanden, das gehört einfach dazu.» Ein weiteres altgedientes Argument: «Beklagt euch nicht! Je nach Beruf beginnt der Arbeitstag im Erwachsenenalter noch früher.»
Noch setzen Zürcher Sekundarschulen auf Frühlektionen. Ein Beispiel: Die Tochter eines blue Lesers hat in der 3. Sekundarschule an vier Tagen pro Woche um 7.30 Uhr ihre erste Lektion.
Und diese nicht in einem «Aufwärmfach», sondern in Französisch, Mathematik und Geometrie. Ebenfalls vier Frühlektionen hatte im vorangegangenen Schuljahr ein anderer Sekundarschüler, der der Redaktion bekannt ist.
Das Problem dabei ist nicht, dass verweichlichte Jugendliche ungern früh aufstehen. Die Pubertät bringt eine Verschiebung der inneren Uhr mit sich, die sie später müde werden lässt, während das Schlafbedürfnis noch gleich gross ist wie in der Primarschule, nämlich 8,5 bis 9,25 Stunden pro Nacht.
Die Folge ist ein Schlafmanko, und dieses reduziert den Lernerfolg der Schüler*innen – nicht nur in den Frühlektionen, sondern auch während des Rests des zäh dahinfliessenden Schultags.
In den letzten Jahren haben mehrere Studien diesen Zusammenhang nachgewiesen. Die Universität Basel kommt zum Schluss, dass schon ein 20 Minuten späterer Unterrichtsbeginn den Sekundarschüler*innen im Schnitt 15 Minuten mehr Schlaf einbringt, dank dem sie während des ganzen Tages wacher und aufmerksamer sind. Basel hat deshalb schon vor zehn Jahren den Schulstart von der 1. bis zur 9. Klasse auf frühestens 8 Uhr festgelegt.
Eine Studie aus den USA ist bereits 2010 zum Schluss gekommen, dass der Schulerfolg grösser ist, wenn der Unterricht später beginnt. Weitere positive Folgen der dadurch steigenden Schlafdauer seien bessere physische und psychische Gesundheit sowie weniger Verkehrsunfälle.
Zürich muss umstellen und tut sich schwer
Inzwischen wirkt sich die Erkenntnis auch in der Schweiz aus, wie Beat A. Schwendimann, pädagogischer Leiter des Schweizer Lehrerinnen- und Lehrerverbands (LCH) erklärt: «Insgesamt beobachten wir in Kantonen und Gemeinden eine zunehmende, pragmatische Bewegung hin zu späteren Starts oder weniger Frühlektionen.»
Schwendimann mahnt, dass Varianten für einen späteren Unterrichtsbeginn auf der Oberstufe sorgfältig geprüft werden sollten, «unter Berücksichtigung weiterer Faktoren wie Schulweg, Betreuungsangebote und Freizeitangebote am Nachmittag durch Vereine.»
Lernerfolg ist ein gewichtiges Argument, wenn es um die Organisation des Schulunterrichts geht. Das musste jetzt auch das Zürcher Schulamt zur Kenntnis nehmen.
Das Zürcher Schulamt tut sich trotzdem schwer mit den Umstellungen, die sich daraus ergeben, das zeigen die Antworten, die die Behörde blue News gegeben hat: «Der spätere Schulbeginn erschwert die Stundenplanung. Er führt zu späterem Unterrichtsschluss, erhöht den Druck auf Sportanlagen und Spezialräume und schränkt die organisatorische Autonomie der Schulen ein.»
Turnhallen und für den Schwimmunterricht geeignete Bäder sind in Zürich stark ausgelastet. Beginnt die erste Lektion später, stehen insgesamt weniger Stunden zur Verfügung, während denen die Schulen ihre Sportlektionen ansetzen können. Ab dem späteren Nachmittag mieten sich oft Sportvereine in den Turnhallen und Bädern ein.
Weiter argumentiert das Zürcher Schulamt, dass sich der Unterricht noch später in den Nachmittag verschiebe. Dieser dauere bereits jetzt oft bis 17 Uhr. «Ein späteres Unterrichtsende schränkt die Zeit für Erholung, Freizeit und Sport deutlich ein.»
Elterngespräche verschieben sich auf später
Dem widerspricht der Stundenplan der bereits erwähnten Zürcher Sekundarschülerin: Ihr Unterricht endet einmal um 16.35 Uhr, zweimal um 15.45 und einmal um 14 Uhr. Der Mittwochnachmittag ist traditionell frei – bis zum Ende der obligatorischen Schulzeit.
Da ist Platz für wegfallende Frühlektionen, ohne dass die Schule bis in den Abend hinein dauert. Natürlich darf nicht von einem Stundenplan auf die ganze komplexe Planung sämtlicher Schulen geschlossen werden.
Ein anderes aus dem Schulumfeld zu hörendes Argument ist, dass die Lehrpersonen lieber früh zu unterrichten beginnen und dafür weniger lange arbeiten müssen. Schliesslich haben sie nach Unterrichtsende noch diverse andere Verpflichtungen wie Administrationsarbeiten, das Korrigieren von Prüfungen, Teamsitzungen oder Gespräche mit Eltern.
Schwendimann vom LCH weist darauf hin, dass eine Verschiebung des Unterrichtsbeginns für die Lehrpersonen nicht zu einer Verlängerung der Arbeitszeit führen dürfe, zudem Lehrpersonen heute schon zahlreiche unbezahlte Überstunden leisteten, wie Erhebungen des Verbands zeigten.
Dem ist anzufügen, dass es keinen logischen Zusammenhang zwischen einem späteren Unterrichtsstart und einer Verlängerung der Arbeitszeit gibt. Allenfalls ist wegen des späteren Starts später Feierabend. Dies können die Lehrpersonen vermeiden, indem sie gewisse Arbeiten während der nun frühmorgens frei werdenden Zeit erledigen.
Den Unterrichtsstart um 30 Minuten zu verschieben, bringt zweifellos zahlreiche organisatorische Umstellungen mit sich. Ein politischer Entscheid hat in Zürich dazu geführt, dass die Zuständigen diese Aufgabe schultern müssen.
Kommen die Schüler*innen dafür gescheiter aus der Schule, hat sich der Aufwand gelohnt.
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