Einblick ins ArchivWie der Bundesrat vor 30 Jahren der EU beitreten wollte
tafi
3.1.2022
Die Schweiz ringt seit Jahrzehnten um das richtige Verhältnis zur Europäischen Union. 1991 wollte der Bundesrat dem EU-Vorläufer Europäische Gemeinschaft beitreten – trotz unvorteilhafter Verträge.
tafi
03.01.2022, 15:12
04.01.2022, 15:45
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«Die Frage der künftigen Beziehungen mit Europa», erklärt der Historiker Sacha Zala, Direktor der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis), sei «ungewisser denn je, und der Bundesrat so gespalten wie nie zuvor». Zala redet mitnichten vom vergangenen Jahr, von der plötzlichen Beerdigung des Rahmenabkommens durch den Bundesrat.
Nein, Zala redet von einer Diskussion, die die Landesregierung vor 30 Jahren führte. Schon damals war die europäische Integration der Schweiz ein grosses Problem. Weil mit dem Neujahrstag bislang unter Verschluss gehaltene Dokumente aus dem Jahr 1991 freigegeben wurden, lässt sich nun ein ziemlich detailliertes Bild der Schweizer Aussenpolitik Anfang der 1990er-Jahre zeichnen – mit Déjà-vu-Faktor zur heutigen Zeit.
Bundesrat tief gespalten
1991 entbrannten im Bundesrat heftige Diskussionen um den Vertrag über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Mit dem EWR sollte Anfang der 1990er-Jahre der Binnenmarkt der Europäischen Gemeinschaft (EG), des Vorläufers der EU, auf die Europäische Freihandelszone (Efta), zu der auch die Schweiz gehört, ausgedehnt werden
Während 1990 der EWR als «dritter Weg» zwischen Alleingang der Schweiz und dem Beitritt zur damaligen Europäischen Gemeinschaft als einzige tragfähige Lösung erschien, war der Bundesrat im Folgejahr in dieser Frage tief gespalten. Im März schlug der damalige Bundespräsident Flavio Cotti seinem Bundesratskollegen Jean-Pascal Delamuraz vor, die seiner Ansicht nach «demütigenden» EWR-Verhandlungen möglichst schnell zugunsten eines Beitrittsgesuchs zu unterbrechen, wie die jetzt veröffentlichten Dodis-Dokumente belegen.
Kritiker befürchteten Degradierung zum Satellitenstaat
Die Diskussion an der Bundesratssitzung vom 17. April 1991 war demnach beispielhaft für die Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Gremiums. Finanzminister Otto Stich zeigte sich überzeugt, dass ein schlechter Vertrag niemals als Schritt in die richtige Richtung betrachtet werden könne. Der EWR-Vertrag stehe dafür, dass die Schweiz zum Satellitenstaat werde.
Aussenminister René Felber unterstrich dagegen die zahlreichen vorteilhaften Punkte, die selbst ein unausgewogener Vertrag für die Schweiz habe. Verteidigungsminister Kaspar Villiger stellte gemäss dem Auszug aus den Archiven fest, die Schweiz begebe sich auf die Schiene einer mit einem Autonomiestatut ausgestatteten Kolonie.
Brüssel attestierte der Schweiz ein «Modernitätsdefizit»
In Gesprächen mit den europäischen Partnern versuchten die Mitglieder der Landesregierung mehrfach, ihrer Unzufriedenheit über den Gang der Verhandlungen Ausdruck zu verleihen. Der Druck aus Brüssel war stark: EG-Chefunterhändler Horst Günter Krenzler bescheinigte der Schweiz gar ein «Modernitätsdefizit» von 30 Jahren – und zwar in vielen Bereichen.
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«Defizit in der Weise der Beschlussfassung, in der Gesetzgebung, im Solidaritätsbewusstsein und letztlich in der Mentalität», notierte der Schweizer Chefunterhändler Franz Blankart in einem Gesprächsprotokoll aus dem Juni 1991 das Urteil der EG. Es sei daher nicht möglich, die Schweiz sofort als Vollmitglied aufzunehmen. Eine Korrektur der Defizite könne nur «in zwei Schritten, d. h. via EWR erfolgen.»
Auch wenn es bedeutete, unvorteilhafte Ergebnisse der EWR-Verhandlungen zu akzeptieren, erklärte der Bundesrat nach einer letzten Klausur im bernischen Gerzensee (Protokoll) in der Nacht des 22. Oktobers 1991 den Beitritt der Schweiz zur EU zum strategischen Ziel, mit dem Zwischenschritt des EWR-Vertrags. Den allerdings hat das Stimmvolk im Dezember 1992 in einem denkwürdigenReferendum bachab geschickt – und damit auch das Beitrittsgesuch, das der Bundesrat am 18. Mai 1992 beschlossen hatte (auch wenn es erst 2016 offiziell zurückgezogen wurde). Die Diskussionen um das Verhältnis der Schweiz zur EU sind seither nicht verstummt.