Frauenstreik «Wieso länger arbeiten?» – «Frauen leben länger»

Von Anna Kappeler

14.6.2022

Was ist zwei Jahre nach dem Frauenstreik vom 14. Juni 2019 – im Bild Demonstrantinnen in Lausanne – übriggeblieben?
Was ist zwei Jahre nach dem Frauenstreik vom 14. Juni 2019 – im Bild Demonstrantinnen in Lausanne – übriggeblieben?
Bild: Keystone

Der Frauenstreik spaltet die Frauen. Für Barbara Steinemann von der SVP ist dieser «anklagendes Opfergetue». Tamara Funiciello von der SP holt dagegen Atem für den «langen Schnauf, den Feministinnen brauchen». Ein Streitgespräch via Whatsapp.

Von Anna Kappeler

14.6.2022

Auf den Tag drei Jahre ist es her, als 500'000 Frauen genug hatten. Auf die Strasse gingen. Einen Tag streikten. Wütend. Laut. Weil etwa ihre jahrzehntealte Forderung «Gleiche Arbeit, gleicher Lohn» noch immer nicht Realität ist. 

Die grösste Demonstration der jüngeren Geschichte. 

Was ist davon übriggeblieben? Wo steht die Schweiz heute? Und wie kommt es, dass die Debatte über die AHV-Reform in der Sommersession 2021 im Nationalrat zum Streitgespräch über Gleichstellung wurde (hier unser Ticker zum Nachlesen)?

Der 14. Juni ist Frauenstreik-Tag

Zur Transparenz: Wir haben diesen Text das erste Mal vor genau einem Jahr publiziert, und veröffentlichen ihn in einer aktualisierten Variante zum diesjährigen Frauenstreik erneut.

Diese und weitere Fragen diskutieren die beiden Nationalrätinnen Tamara Funiciello (SP/BE) und Barbara Steinemann (SVP/ZH) im gemeinsamen Gruppenchat mit der Journalistin.

Ihre Voten stehen exemplarisch dafür, wie gespalten die Frauen beim Thema Gleichstellung und Frauenstreik sind.

Ein Gruppenchat zu dritt

«Frauen arbeiten in Stunden mindestens gleich lange wie Männer. Dennoch sind sie im Alter arm.» Tamara Funiciello (SP/BE) im Nationalratssaal.
«Frauen arbeiten in Stunden mindestens gleich lange wie Männer. Dennoch sind sie im Alter arm.» Tamara Funiciello (SP/BE) im Nationalratssaal.
Bild: KEYSTONE

    

Barbara Steinemann, Nationalrätin (SVP/ZH): «Wo ich für die Sache der Frauen kämpfe? Dass Delikte gegen Frauen endlich richtig bestraft werden.»
Barbara Steinemann, Nationalrätin (SVP/ZH): «Wo ich für die Sache der Frauen kämpfe? Dass Delikte gegen Frauen endlich richtig bestraft werden.»
Bild: KEYSTONE
Anna Kappeler

Liebe Frau Steinemann, liebe Frau Funiciello. Was mich gleich zu Beginn wundernimmt: Am Mittwoch hat auch der Nationalrat beschlossen, dass Frauen erst mit 65 in Pension gehen können. Ein Grund, am Montag auf die Strasse zu gehen?

Tamara FunicielloDefinitiv ein Grund, auf die Strasse zu gehen! Erstens muss die AHV gesamtgesellschaftlich angeschaut werden: In Zeiten der Digitalisierung, der Krise, der Ü50-Arbeitslosigkeit macht es null Sinn, die Arbeitszeit der Hälfte der Bevölkerung zu erhöhen. Und es gibt nichts Patriarchaleres als die Annahme, es müsse sich immer alles an den Männern orientieren – wenn eigentlich die Lösung für die Frauen besser ist.ja, es gibt ja immer noch SMS, Telefon und Brieftaube. Und deine Abwesenheit bei WhatsApp könnte ja auch die letzte noch nötige Motivation für deine Kontakte sein, doch mal eine alternative App auszuprobieren.

Zweitens: Frauen arbeiten in Stunden mindestens gleich lange wie Männer. Dennoch sind sie im Alter arm. Sie leisten den Grossteil der unbezahlten Sorgearbeit (Kinder grossziehen, Eltern pflegen). Dank ihnen läuft diese Gesellschaft überhaupt. Sie nun im Namen der Gleichstellung zur Kasse zu bitten, ist ein Hohn. 
Barbara SteinemannWir Frauen wollen Gleichberechtigung, da gehören auch die gleichen Pflichten dazu. Es muss Schluss sein mit dieser Rosinenpickerei. Wir haben das Glück, länger zu leben als Männer. 
Tamara FunicielloDrittens: Ohne Grossmütter keine Erwerbsarbeit der Mütter – sie schauen heute zu unseren Kindern, weil die Gesellschaft es nicht schafft, dies anders zu lösen. Daher Nein zur AHV2021!
Barbara SteinemannDas Narrativ, Frauen seien überall diskriminiert, insbesondere bei der 1. Säule, stimmt einfach nicht. Die Frauen zahlen weniger ein, beziehen aber mehr Geld daraus. Bei verheirateten Paaren besteht in der Regel eine wirtschaftliche Einheit und die Rente des Mannes wird als Haushaltseinkommen beider Ehegatten angesehen. Das gleiche Rentenalter ist auf jeden Fall auch sachlich gerechtfertigt.
Tamara FunicielloIch bin nicht gegen ein gleiches Rentenalter. Ich bin dagegen, Rentenalter zu erhöhen. Sei das bei Frauen, sei das bei Bauarbeitern. Wir werden immer produktiver und schneller – wieso länger arbeiten? Und seien wir ehrlich: Die, die nun das Rentenalter 65 fordern, sind die gleichen, die Leute rausschmeissen, wenn diese Ü50 sind. Das geht nicht auf. Und die Diskriminierung von Frauen ist nicht «ein Narrativ» – es ist eine statistische Realität.
Anna Kappeler

Stimmen, die mahnen, wir Frauen sollten vor lauter Gleichberechtigungsforderungen den Bogen nicht überspannen, mehren sich. Zu Recht?

Barbara SteinemannDas angebliche Problem der fehlenden Gleichberechtigung empfinden die Frauen offenbar nicht so. Das Thema ist seit Jahrzehnten aus dem Sorgenbarometer verschwunden. Das Problem mit den älteren Menschen, die Probleme auf dem Arbeitsmarkt haben, dagegen besteht, und es besteht insbesondere seit der Personenfreizügigkeit.

Wir werden älter und wollen immer mehr Rente. Das Ausland hat sich der Realität gestellt und eine Erhöhung des Rentenalters auf die Jahre nach 2030 beschlossen. Dieser Realität können wir nicht ausweichen.
Anna Kappeler

Wie kommt's, dass die AHV-Debatte im Nationalrat zum Streitgespräch über Gleichstellung wurde?

Barbara SteinemannHeute werden Frauen in diesem Punkt bevorzugt. Das möchten wir aus mehreren Gründen ausgleichen. Was die Lebensjahre der Frauen ohne eigenes Einkommen betrifft, hat man schon in früheren Revisionen das Splitting eingeführt. Dieses lässt Frauen (oder Männer) gleichberechtigt an den AHV-Beiträgen des Ehegatten partizipieren. Das Gleiche gilt auch für die PK.
Tamara FunicielloEs ist schon erstaunlich, wie die SVP es schafft, 500'000 Frauen und solidarische Männer, die 2019 im grössten Streik der Schweizer Geschichte auf die Strasse gingen, zu ignorieren. Die Zahlen reden Klartext, was die Diskriminierung von Frauen angeht.

19 Prozent beträgt der Lohnunterschied zwischen Frauen und Männer 2019. 18 Prozent betrug er 2016. 100 Milliarden beträgt also die Einkommenslücke zwischen Frauen und Männer pro Jahr. 28 unbezahlte Arbeitsstunden leisten Frauen im Haushalt pro Woche. Das sind 50 Prozent mehr als die Männer. Ganze 70 Arbeitsstunden leisten Mütter pro Woche. 52 davon sind unbezahlt. Insgesamt sind 1 Milliarde Stunden Kinderbetreuung pro Jahr unbezahlt. 248 Milliarden ist der monetäre Wert der unbezahlten Arbeit von Frauen in der Schweiz jährlich. Das ist mehr, als Bund, Kantone und Gemeinden zusammengerechnet jedes Jahr ausgeben.

Zudem: Weisst du, liebe Barbara, wer am längsten lebt? Die Reichen. Es gibt acht Jahre Unterschied in der Lebenserwartung zwischen den ärmsten 20 Prozent und den reichsten 20 Prozent. Da müssen wir ansetzen.

Ich lasse nicht zu, dass man in der AHV-Frage Männer und Frauen gegeneinander ausspielt. Denn die zentrale Frage ist: Büezer oder Bonze! Meine Partei steht klar für die Büezer.
Barbara SteinemannDie Büezer und Chrampfer wählen euch aber kaum noch. Warum? Das hat Sahra Wagenknecht (dt. Politikerin, Anm. d. Red.) in ihrem aktuellen Bestseller sehr treffend beschrieben. Klassenkampf und Feindbild-Pflege tragen weder zur Gleichberechtigung noch zur schlimmen Finanznot in der 1. Säule bei.

Apropos Reiche: 92 Prozent der Rentner bekommen heute mehr aus dem AHV-Topf, als sie eingezahlt haben. Die Umverteilung von reich zu weniger reich ist nirgendwo so deutlich wie bei der AHV.
Anna Kappeler

Sie lassen die Büezer*innen der SP, Frau Steinemann?

Barbara SteinemannAuch die Bürgerlichen kämpfen für eine gesunde Altersvorsorge, aber ohne Klassenkampf und ohne den Beitrag der Frauen gegen jenen der Männer auszuspielen. Und ohne Klassenkampf-Geklimper. Selbstverständlich haben Frauen Respekt verdient für ihre wertvolle Leistung gegenüber der Gesellschaft; Männer aber genauso.
Tamara FunicielloBis jetzt habe ich nur leere Phrasen und komische Anschuldigungen von dir gelesen, liebe Barbara. Wo bleiben die Zahlen, um deine Behauptungen zu untermalen? Wo bleiben die Fakten? Die SP ist und bleibt die Partei der Büezer*innen in diesem Land – das zeigt der Kampf für die AHV. Seit 1918 kämpfen wir für dieses Sozialwerk und wir werden diesen Kampf auch nicht aufgeben. Es ist eine Frage des politischen Willens, ob es der AHV gut geht oder nicht. Doch ihr macht nichts anderes, als sie zu destabilisieren und auszuhungern.

Weisst du, wie viel Geld der AHV seit der Annahme der Unternehmenssteuerreform II, die die Dividenden entlastet hat, fehlt? Mehrere Milliarden. Weil Dividenden nicht sozialversicherungspflichtig sind, liebe Barbara. Das heisst, es lohnt sich mehrfach für Unternehmer oder auch KMU, sich Dividenden und nicht Löhne auszuzahlen – dieses Geld fehlt dann auch in den Sozialwerken. Es gibt so viele Gründe, das Rentenalter nicht zu erhöhen. Und noch viel mehr Möglichkeiten, die AHV zu stabilisieren bis 2030 ohne Rentenabbau für die hart arbeitenden Menschen in diesem Land.
Anna Kappeler

«Gleiche Arbeit, gleicher Lohn» haben die Frauen schon vor Jahrzehnten gefordert. Die Realität ist noch immer ... ungleich. Was haben Sie beide im letzten Jahr konkret für die Gleichberechtigung der Geschlechter getan?

Barbara SteinemannWo ich für die Sache der Frauen kämpfe? Dass Delikte gegen Frauen endlich richtig bestraft werden. Mit Sanktionen, die den Frauenquälern wehtun, also happige Geldstrafe und/oder Gefängnisaufenthalt. Die Linke hat für das Strafbedürfnis der Bevölkerung und der Opfer nur Verachtung übrig. Eine reine Administrativstrafe für eine Vergewaltigung oder eine Körperverletzung ist doch keine Sanktion.
Anna Kappeler

Die Frage, was Sie konkret für die Gleichberechtigung getan haben, haben Sie noch nicht beantwortet, Frau Funiciello.

Dann, weil Frau Funiciello gleich weiter muss, zwei Abschlussfragen: Was ist vom grossen Frauenstreik 2019 heute übrig geblieben? Und: Werden Sie an einer Demo teilnehmen?

Tamara FunicielloNicht genug.

Genau darum gehe ich heute Montag wieder auf die Strasse – der Kampf der Feministinnen und der Kampf der Arbeiterinnen und Arbeiter hat schon immer einen langen Schnauf gebraucht. Den haben wir. Wir sind gekommen, um zu bleiben – wir gehen erst wieder weg, wenn wir das bekommen, was uns zusteht.
Anna Kappeler

Was steht uns denn zu?

Tamara FunicielloGeld, Zeit und Respekt für den Beitrag, den wir in dieser Gesellschaft leisten. Die AHV2021 gibt uns nichts von dem – sondern lässt uns einmal mehr zahlen.
Barbara SteinemannSo einfach ist die Welt nicht, dass man das Geld einfach bei den Reichen holen kann, und alles wird gut. Das funktioniert nirgendwo auf der Welt.

Was die 19 Prozent Lohnunterschiede betrifft, sind diese mathematisch richtig. Aber sind sie auch das Ergebnis einer Diskriminierung von Frauen? Ich glaube kaum, sie sind das Ergebnis unterschiedlicher Präferenzen. Nur ganz wenige Frauen klagen vor den Arbeitsgerichten wegen Lohndiskriminierung und bekommen recht. Es sind pro Jahr nicht mehr als zehn.
Anna Kappeler

Dann nehme ich nicht an, dass Sie am Montag auf die Strasse gehen, Frau Steinemann?

Barbara SteinemannStreik und Demo ist nicht meine Welt. Ich bin dankbar, in der Schweiz leben zu können und als Frau gleichberechtigt zu sein. Das ist in den meisten Ländern auf der Welt nicht so. Ich kann mit dem anklagenden aggressiven Opfergetue nichts anfangen.
Anna Kappeler

Vielen Dank für dieses Gespräch, liebe Frauen Funiciello und Steinemann.

Das passiert heute zum Frauenstreik:

  • Es gibt schweizweite Aktionen und Demonstrationen unter dem Motto: «Wir bezahlen eure Reform nicht! Nein zur AHV 21!».
  • 12 Uhr: Feministische Mittagspause mit Ständen, Essen, Musik und Tanz auf dem Kreuzackerplatz in Solothurn.
  • 13.30 Uhr: Unia-Aktion in Bern gegen Erhöhung des Rentenalters.
  • 14 Uhr: Demonstration auf dem Theaterplatz in Basel.
  • 15.30 Uhr: Internationales Picknick auf der Mentona-Moser-Anlage in Zürich.
  • Ab 18 Uhr: Bewilligte Abschluss-Demonstrationen in verschiedenen Städten wie St. Gallen, Lausanne, Genf, Bern, Zürich.
  • 22 Uhr: Konzert der feministischen Punk-Band Pussy Riot in der Kaserne in Basel.