Vor dem Bezirksgericht Bülach ZH muss sich am Freitag eine 31-Jährige verantworten. Sie soll ihren 4-jährigen Sohn getötet haben. Ein Gutachter gab am Prozess Einblick in die Psyche der Beschuldigten.
Schwarze kurze Haare, ein buntes T-Shirt, dunkle Hosen und rosa glitzernde Schuhe: So erschien die 31-jährige Beschuldigte am Freitag vor dem Bezirksgericht Bülach. Ihr wird vorgeworfen, ihren 4,5-jährigen Sohn in der Wohnung getötet zu haben.
Am Wochenende des 19. und 20. Januar soll die Frau ihren Sohn laut der Staatsanwaltschaft zu Hause gezüchtigt haben. «Die Beschuldigte verübte massive körperliche Gewalt gegen ihren Sohn», so die Anklage.
Die Mutter soll die Haut des Jungen an Armen und Oberschenkeln verdreht haben und ihn mit einem Elektrokabel und beziehungsweise oder Gürtel auf den Oberkörper geschlagen haben. Die Verletzungen führten schliesslich zu einem akuten Herzversagen beim 4,5-Jährigen.
Bereits im Kinderspital
An der Verhandlung wurden Zeuginnen und Zeugen einvernommen. So auch eine Psychologin, welche die Beschuldigte im Jahr vor der Tötung behandelt hat. «Ich hatte nicht den Eindruck, dass einmal so etwas Schlimmes passieren wird.» Sie hätte keine Hinweise auf eine Gefährdungssituation festgestellt. Es habe keine Alarmzeichen gegeben.
Der vorsitzenden Richter fragte, ob die Psychologin gewusst habe, dass der Sohn der Beschuldigten zweimal im Kinderspital gewesen ist. Einmal, weil der Sohn Verbrennungen am Arm hatte, angeblich wegen einer umgestossenen Teekanne. Das zweite Mal, weil der 4-Jährige angeblich bei einem Sturz eine Rissquetschwunde an der Lippe davon trug.
Die Psychologin verneinte. Sie habe auch keine Hinweise auf eine psychische Störung bei der Beschuldigten feststellen können. «Sie war belastet und in Not», sagte die Psychologin über die Beschuldigte. «Deshalb brauchte sie Begleitung.»
Rachespirale gegen Ehemann
In einer belastenden Situation habe sich die Beschuldigte befunden, weil es zur Trennung ihres Mannes gekommen sei. Ein Nachbar hat sich über die Vorkommnisse in der Wohnung der Beschuldigten Sorgen gemacht und die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) informiert. Fortan klärten die Behörden die Obhutsfrage um den Sohn ab – und Fachpersonen einer Stiftung kümmerte sich deshalb um die Familie.
Beide wurden vom Gericht als Zeugen einvernommen. Sie gaben an, keinen Verdacht gehabt zu haben, dass die Beschuldigte an einer paranoiden Schizophrenie oder sonst an einer psychischen Krankheit leide.
Vielmehr sei man davon ausgegangen, dass die 31-Jährige sich in einer Stresssituation befunden habe – auch, weil ihr der Entzug ihres Sohnes, den sie später tötete, drohte. Sie habe sich in einer Rachespirale gegen ihren Ehemann befunden.
Alkohol und Religiosität
Während der Zeit, in der das Kindeswohl abgeklärt wurde, spitzte sich die Situation zu. Die Beschuldigte demolierte die Familienwohnung, riss das Parkett heraus und demontierte Lichtschalter. Ein Notfallpsychologe ging nicht von einer Eigen- und Fremdgefährdung aus, die Beschuldigte wurde daher nicht stationär in eine Klinik eingewiesen.
Die Bindung zwischen der religiösen Mutter und Sohn beschrieben beide Zeugen als liebevoll. Es seien keine Hinweise auf eine Kindesmisshandlung vorgelegen. Auch von den Spitalaufenthalten des 4-Jährigen hätten die Mitarbeitenden der Stiftung nichts gewusst. Auch davon nicht, dass die Mutter Alkohol konsumiert oder sich in einem religiösen Wahn befunden haben soll.
Kein Anblick in Inneres
Vor Gericht wurde auch der forensische Psychiater Elmar Habermeyer befragt. Dieser schrieb ein Aktengutachten über die Beschuldigte und diagnostizierte eine paranoide Schizophrenie. Auf die Frage des vorsitzenden Richters, wieso er davon ausgehe, dass niemand zuvor eine psychische Erkrankung bei der 31-Jährigen festgestellt hat, sagte Habermeyer: «Ich bin in einer glücklichen Position und kann die Gesamtschau betrachten.»
Es sei so, dass die Beschuldigte schwer krank sei, aber das nicht gegen aussen trage. «Sie spricht nicht über ihr inneres Leben», so Habermeyer. Es könne sein, dass deshalb auch Kliniken, von denen die 31-Jährige nach ihrer Verhaftung drei besucht hat, nicht auf die Diagnose gekommen.
Ihr inneres Gefühlsleben würde die Beschuldigte zwar niemandem in einem Gespräch kundtun, sie schreibe aber Briefe. Das sei nach der Demolierung der Wohnung passiert und auch während ihrer Zeit in der Haft. «Dort gewährt sie Einblick in ihr Empfinden», so Habermayer, der Zugang zu den Schreiben bekommen hat.
Der Inhalte der Briefe und die Auffälligkeiten im Verhalten der Beschuldigten als Ganzes betrachtet, lassen deshalb die Diagnose paranoide Schizophrenie zu. Bereits vor der Tötung ihres Sohnes sei die Frau auffällig gewesen, zum einen wegen der Demolierung der Wohnung, zum anderen wegen «absurder» Beschuldigungen ihres Ex-Mannes.
Falsche Behauptungen
Sie soll im Obhutsstreit um den Sohn behauptet haben, dass der Vater den 4-Jährigen dazu zwang, Kot zu essen, ihm Drogen verabreichte oder dass er den Sohn sexuell misshandeln würde. Alles haltlose Anschuldigungen. Der Mann berichtete hingegen, dass die religiöse Beschuldigte mitten in der Nacht angefangen habe, zu singen und zu beten – lautstark.
Die Staatsanwaltschaft geht auch aufgrund der Aussagen von Habermeyer von einer Schuldunfähigkeit der Beschuldigten während der Tötung ihres Sohnes aus. Sie beantragt statt einer Freiheitsstrafe eine stationäre Massnahme.
Anders sieht das die Verteidigung. Die Beschuldigte sei nicht direkt verantwortlich für den Tod des Sohnes. Er sei die Treppe hinuntergestürzt.
Der Bericht über die Plädoyers der Staatsanwaltschaft, der Anwältin des Privatklägers und jenes der Verteidigung folgt am Nachmittag.