Junge Familie wagt Neubeginn in Corippo TI «Wir sind ja nicht allein im Tal»

Von Andreas Fischer

1.6.2021

Sie haben sich was vorgenommen: Désirée Voitle und Jeremy Gehring ziehen mit ihrem Sohn in das kleinste Dorf der Schweiz. 
Sie haben sich was vorgenommen: Désirée Voitle und Jeremy Gehring ziehen mit ihrem Sohn in das kleinste Dorf der Schweiz. 
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Corippo, die einst kleinste Gemeinde der Schweiz, wächst plötzlich: Was verschlägt eine junge Familie in eine Abgeschiedenheit, die vor allem aus leerstehenden Steinhäusern besteht?

Von Andreas Fischer

Corippo ist eines der schönsten Dörfer der Schweiz. Ein urtümlicher Flecken mit engen, steilen Gassen, die meisten der urwüchsigen Häuser, die am Hang kleben, bestehen aus grob behauenem Granit. Ein besonderer Ort, der auch im Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler Bedeutung (ISOS) geführt wird. Nur wohnen will in Corippo fast niemand mehr. Die Bevölkerung stirbt aus. Doch das ändert sich jetzt.

Eine junge Familie sorgt für einen Bevölkerungszuwachs von 30 Prozent. Désirée Voitle und Jeremy Gehring ziehen mit ihrem kleinen Sohn in das ehemals kleinste Dorf der Schweiz. Sie werden – mit Abstand – die jüngsten Bewohner von Corippo sein.

Was verschlägt eine junge Familie in ein abgeschiedenes Dorf im Tessiner Verzascatal? Ein ohne Frage malerisches Dorf, aber auch eines ohne Infrastruktur, ohne Zerstreuungsmöglichkeiten?

Aus Skepsis wird Vorfreude

Jeremy Gehring, gebürtiger Freiburger, ist im Gespräch mit «blue News» ehrlich: «Wir ziehen dorthin, weil wir dort arbeiten wollen. Ansonsten», räumt er ein, «wäre es schon schwierig in der Abgeschiedenheit.» Der Romand und seine französische Partnerin Desirée Voitle wollen in Corippo das «Albergo Diffuso» leiten – ein Hotel-Projekt, dessen Zimmer und Gebäude sich im ganzen Dorf verteilen und den Ort somit neu beleben.

Vor dem Zuzug der Familie lebten offiziell neun Menschen in Corippo. «Der Jüngste ist um die 55, die meisten anderen sind über 70 Jahre alt», sagt Jeremy Gehring. Dass er mit seiner Familie den Altersschnitt merklich senken wird, nimmt er mit einem hörbaren Schulterzucken hin. «Das wird schon werden, wieso sollten wir uns Sorgen machen?»



Berührungsangst verspüren die Neuankömmlinge nicht, auch wenn sie von den an zwei Händen abzählbaren Bewohnern von Corippo anfangs etwas misstrauisch beäugt worden seien. Mittlerweile aber ist die Skepsis der Vorfreude gewichen. «Die Menschen sind sehr freundlich und offen uns Neuankömmlingen gegenüber. Vor allem die Aussicht darauf, wieder einen Kaffee in der Osteria zu trinken, scheint ihnen sehr zu gefallen», sagt Gehring.

Bis zum endgültigen Umzug der Familie wird es noch einige Monate dauern, verrät Gehring, der im Hotel-Projekt für die Küche zuständig sein wird. «Wir sind schon viel vor Ort, aber noch nicht komplett gezügelt.» Ende Jahr soll die «Albergo Diffuso» eröffnen, «dann werden wir auch ganz in Corippo leben,» sagt Gehring.

Sobald die Baustellen verschwunden sind, wollen Désirée Voitle und Jeremy Gehring mit ihrem Sohn dauerhaft nach Corippo ziehen.
Sobald die Baustellen verschwunden sind, wollen Désirée Voitle und Jeremy Gehring mit ihrem Sohn dauerhaft nach Corippo ziehen.
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Die Zivilisation ist eine halbe Stunde entfernt

Die ersten Nächte hat die Familie bereits im neuen Domizil verbracht. «Ganz einfach ist das wegen der Baustelle nicht», sagt Gehring. Von der Welt abgeschlossen fühlte sich die Familie dabei übrigens nicht: «Wir kehren in Corippo nicht der Zivilisation den Rücken zu.» Sie sei nur 20, 30 Minuten entfernt. Gleichwohl gibt es einige Wermutstropfen: «Das nächste Kino ist nicht gerade um die Ecke. Wir tanzen auch sehr gern – das ist nun natürlich nicht mehr so einfach.»



Auf der anderen Seite habe die Entscheidung für Corippo viele Pluspunkte: «Wir können in unserem eigenen Haus, in unserem eigenen Hotel arbeiten.» Die Arbeit und das Leben lassen sich so gut verbinden. Und Angst, in der Abgeschiedenheit zu vereinsamen, hat die Familie auch nicht: «Wir werden schliesslich viele Menschen kennenlernen, die bei uns übernachten.»

Bleibt nur die Frage, mit wem der kleine Sohn der Familie spielen soll? «Das ist eine gute Frage», sagt Jeremy Gehring lachend. Aber: «Wir sind ja nicht allein im Tal. Die Schule ist nicht weit von hier. Da wird sich schon die eine oder andere Gelegenheit ergeben.» Und schliesslich, so fügt der Papa an, könne der Filius auch mit den Kindern der Gäste spielen.