Zwei Geflüchtete erzählen: «Wir wollen nützlich sein für die Schweizer Gesellschaft»
Sie wollen mitreden, wenn es um eine Reform des Schweizer Asylsystems geht: Der Eritreer Sherefedin Mussa und der Ukrainer Dmytro Zhagiy bringen sich darum am Flüchtlingsparlament in Bern ein.
06.05.2022
Sie wollen mitreden, wenn es um eine Reform des Schweizer Asylsystems geht: Der Eritreer Sherefedin Mussa und der Ukrainer Dmytro Zhagiy bringen sich darum am Flüchtlingsparlament in Bern ein.
Als Geflüchtete können Sherefedin Mussa und Dmytro Zhagiy in der Schweiz nicht mitbestimmen. Ihnen fehlt das Stimmrecht. Die realen Konsequenzen der Schweizer Asylpolitik erleben sie jedoch hautnah.
Sherefedin Mussa, der 2013 aus politischen Gründen Eritrea verlassen hat, musste eineinhalb Jahre warten, bis er überhaupt Gewissheit hatte, dass er in der Schweiz bleiben darf. Andere warten sogar bis zu drei Jahre.
Ukrainern wie Dmytro Zhagiy hingegen wird das Ankommen erleichtert, diesen Eindruck erhält man zumindest aus den Medien. Und tatsächlich sagt Zhagiy, er sei vor sechs Wochen, als er in die Schweiz kam, mit offenen Armen empfangen worden. Doch den Menschenrechtsanwalt plagen finanzielle Sorgen: Er sitzt im Rollstuhl und kann nur dank finanzieller Unterstützung einer NGO seine Unterkunft in einem betreuten Wohnheim bezahlen.
Wie lange die Finanzierung gesichert ist, ist ungewiss. Der Staat sieht keine zusätzliche finanzielle Unterstützung für geflüchtete Menschen mit Beeinträchtigung vor.
Mussa und Zhagiy wollen, dass ihre Geschichten, ihre Stimmen gehört werden. Sie teilen ein gemeinsames Ziel: «Wir wollen nützlich sein für die Schweizer Gesellschaft.» Darum nehmen sie am Sonntag am zweiten Flüchtlingsparlament im Berner Rathaus teil, zusammen mit rund 90 anderen Geflüchteten aus 16 Kantonen und zehn Ländern.
«Warum sollten wir nicht auch Afghan*innen oder Syrier*innen wie Ukrainer*innen behandeln?»
Mustafa Atici
SP-Nationalrat
Mussa ist Leiter des Flüchtlingsparlaments und schon seit dessen Gründung vor einem Jahr involviert. Zwei der damals ausgearbeiteten Empfehlungen hätten es als politische Vorstösse ins Parlament geschafft, erzählt er stolz. Wobei: Die Forderung, dass Personen in Ausbildung auch bei einem negativen Asylentscheid ihre Ausbildung noch abschliessen können, wurde vom Ständerat aber gebodigt.
Dennoch ist er zuversichtlich, dass auch in diesem Jahr einige der rund zwei Dutzend Empfehlungen, die die Flüchtlinge in Kommissionen erarbeitet haben, bei den Parlamentarier*innen Gehör finden. Vertreter*innen von Grünen, GLP und SP haben ihre Anwesenheit am Sonntag angekündigt, darunter auch SP-Nationalrat Mustafa Atici.
Atici war bereits beim ersten Flüchtlingsparlament dabei. Er habe miterlebt, wie aktiv und motiviert junge Männer und Frauen mitdiskutiert hätten, wie sie durch die Diskussionen Antworten auf ihre dringendsten Fragen gefunden hätten. Damals seien viele Empfehlungen des Flüchtlingsparlaments als unmöglich umsetzbar abgetan worden: einen besseren Zugang zur Bildung, zum Arbeitsmarkt, die Aufhebung des Rayonsverbots und anderes mehr.
Die Aktivierung des Schutzstatus S für die Geflüchteten aus der Ukraine habe nun schlagartig Unmögliches möglich gemacht, glaubt Atici. Er will die Fragen aufwerfen: «Warum sollten wir nicht auch Afghan*innen oder Syrier*innen wie Ukrainer*innen behandeln?»
«Zuerst müssen wir diese Krise bewältigen.»
Andri Silberschmidt
FDP-Nationalrat
Atici sieht die aktuelle Debatte durchaus positiv: Er erhofft sich, dass in der Bevölkerung das Verständnis auch für die Situation von Geflüchteten aus anderen Ländern wächst. In der nationalrätlichen Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur, der Atici angehört, werde auch ein besserer Zugang zur Bildung und die Anerkennung von Diplomen für Ukrainer*innen diskutiert. «An der nächsten Sitzung im Juni werde ich anregen, dass wir dieselben Erleichterungen auch für Afghan*innen diskutieren.»
Ebenfalls teilgenommen hat am letztjährigen Flüchtlingsparlament Andri Silberschmidt. Dieses Jahr ist der FDP-Nationalrat jedoch verhindert, was er bedauere. Er unterstütze es sehr, wenn sich Betroffene in die politische Debatte einbrächten, «durch den Austausch können wir alle sehr viel lernen».
In der Diskussion um den Schutzstatus S warnt Silberschmidt jedoch vor vorschnellen Schlüssen – die Situation der Ukrainer*innen und Afghan*innen sei nicht vergleichbar, «die Ukrainer*innen besitzen biometrische Pässe und können visafrei im Schengenraum reisen, Afghan*innen nicht». Der Schutzstatus S bringe zudem nicht in allen Belangen Vorteile. Er sei klar rückkehrorientiert, Geflüchtete aus der Ukraine seien darum zum Beispiel im sozialrechtlichen Bereich benachteiligt im Vergleich zu vorläufig Aufgenommenen.
Die Diskussionen über die Ausgestaltungen der verschiedenen Status würde in Zukunft auf alle Fälle stattfinden. «Zuerst müssen wir aber diese Krise bewältigen.»
SEM und Karin Keller-Sutter werden geehrt und belehrt
Zum ersten Mal wird auch eine Vertretung des Staatssekretariats für Migration (SEM) teilnehmen. Das SEM sei daran interessiert, die Diskussionen der Geflüchteten anzuhören, erklärt die Behörde auf Anfrage. Die Partizipation am demokratischen Diskurs sei wichtig, «die Stimme von Geflüchteten soll gehört werden».
Kathrin Buchmann, die das SEM am Sonntag vertritt, wird nicht nur zuhören, sondern auch einen Preis in Empfang nehmen können. Zum ersten Mal wird das Flüchtlingsparlament den Bedankenspreis verleihen, und zwar an das SEM und die zuständige FDP-Bundesrätin Karin Keller-Sutter – für die Aktivierung des Schutzstatus S für die Ukrainer*innen. Verbunden ist dies jedoch auch mit einem «Verbesserungsvorschlag»: Der Schutzstatus S soll auch Menschen aus anderen Ländern offenstehen, die ähnliche Erfahrungen machen mussten.
Das SEM sei erfreut über die Anerkennung, schreibt es auf Anfrage. Es sei jedoch das schiere Ausmass der Fluchtbewegung im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine, der den Schutzstatus S nötig gemacht habe. «Geflüchteten aus anderen Ländern bietet die Schweiz dank des Asylverfahrens Schutz.»
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