Krieg der Bilder «Selenskyj ist ein Medienmensch, Putin hat den Anschluss verpasst»

Von Lia Pescatore

21.5.2022

Krieg der Bilder: «Selenskyj ist ein Medienmensch, Putin hat den Anschluss verpasst»

Krieg der Bilder: «Selenskyj ist ein Medienmensch, Putin hat den Anschluss verpasst»

Während Putin auf Bildern steif am Tisch sitzt, zeigt sich Wolodimir Selenskyj draussen in den zerstörten Strassen: Historikerin Annette Vowinckel weiss, was der ukrainische Präsident seinem russischen Gegenspieler voraushat.

20.05.2022

Während Putin auf Bildern steif am Tisch sitzt, zeigt sich Wolodimir Selenskyj draussen in den zerstörten Strassen: Historikerin Annette Vowinckel weiss, was der ukrainische Präsident seinem russischen Gegenspieler voraushat.

Von Lia Pescatore

Das blutdurchtränkte Plüschtier auf dem Boden ist zu einer Bild-Ikone des Kriegs in der Ukraine herangewachsen. Wie wirkt dieses Bild auf Sie, Frau Vowinckel?

Ein Stofftier mit Blutflecken liegt auf einer Plattform am Bahnhof Kramatorsk nach einem russischen Angriff am 8. April.
Ein Stofftier mit Blutflecken liegt auf einer Plattform am Bahnhof Kramatorsk nach einem russischen Angriff am 8. April.
AP Photo/Andriy Andriyenko

Was das Bild eigentlich zeigt, ist das ganze Leid der ukrainischen Zivilbevölkerung in einer symbolischen Verdichtung auf dieses Stofftier. Der erste Gedanke ist, dass dieses Stofftier einem Kind gehört, von dem wir nicht wissen, ob es noch lebt oder nicht mehr lebt. Wenn es lebt, möglicherweise schwer verletzt ist und sich in einem Krankenhaus befindet. Möglicherweise bombardiert wird. Es setzt eine Reihe von Assoziationen frei, ohne dass es selbst Tote oder Verletzte zeigt.

Was können Sie aus dem Bild über die Person hinter der Kamera erfahren?

Eigentlich nur, dass die Person vor Ort war. Mehr kann man schlecht erkennen. Erstens können wir nicht genau feststellen, ob das mit einem Handy oder mit einer professionellen Kamera aufgenommen wurde, dafür müsste man näher heranzoomen. Ich würde aber wegen der klaren Komposition, der Anordnung der Holzstückchen und des Stoffpferdes auf der Diagonale auf ein professionelles Bild tippen. Da hat also entweder jemand mit einem fotografischen Blick abgedrückt und versucht, aus diesem marginalen Objekt das Beste rauszuholen. Oder es wurde nachträglich beschnitten oder bearbeitet, falls es sich um ein Handy-Foto handelt.

Sie forschen zu Menschen, die Bilder produzieren, editieren und veröffentlichen, und fassen sie dabei unter dem Begriff Agenten zusammen. Warum?

Beim Begriff Agent denkt man wohl zuerst an den Geheimagenten, damit hat es aber nichts zu tun. Ich fand den Begriff der Agenten charmanter, als einfach von Akteuren zu sprechen. Denn diese Akteure haben eine gewisse Handlungsmacht. Sie tun etwas mit den Bildern und die Bilder tun auch etwas mit uns.

Warum sind für Sie die Akteure hinter den Bildern so spannend?

Annette Vowinckel
zVg

Annette Vowinckel ist eine deutsche Historikerin und Kulturwissenschaftlerin. Sie leitet die Abteilung «Zeitgeschichte der Medien- und Informationsgesellschaft» am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam und unterrichtet als Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu ihren Veröffentlichungen gehören eine Kulturgeschichte der Flugzeugentführung (2011) und das Buch Agenten der Bilder. Fotografisches Handeln im 20. Jahrhundert (2016).

Als Historikerin bin ich darauf trainiert worden, Texte auszuwerten. Die Geschichtswissenschaften sind sehr textorientiert, obwohl der Grossteil der Informationen, die wir über die Vergangenheit haben, von Bildern stammen; von Fotos, aber auch von Gemälden, Karikaturen, Zeichnungen oder Landkarten. Ich wollte mich aber nicht nur mit Bildern beschäftigten. Ich bin keine Kunsthistorikerin und will es auch nicht werden. Meine Idee war es darum, dass ich die Bilder so in die bestehenden Erzählformen einflechte, dass man etwas Neues lernt, ausserhalb der Kunstgeschichte. Bilder machen sich in der Regel nicht selbst, jemand produziert sie, jemand anderes editiert sie oder veröffentlicht sie – oder eben nicht, aus gewissen Gründen. Das sind die Prozesse, die mich als Historikerin besonders interessieren.

«Sehr schlaue Leute haben mal gesagt, dass man heutzutage nicht mehr dem Bild traut, sondern dem Fotografen.»

Die Agenten haben in den letzten Jahren mit der Digitalkamera und dem Smartphone stark zugenommen: Denn jeder kann Bilder produzieren und sie online stellen. Wie hat sich das Bild vom Krieg dadurch verändert?

Einerseits ist die Menge der verfügbaren Bilder drastisch gestiegen. Aber abgesehen von quantitativen Bildern nimmt der Anteil der Alltagsbilder und der Bilder aus der zivilen Bevölkerung zu im Vergleich zu den Bildern, die aus dem klassischen Fotojournalismus stammen. Bei diesen Bildern stellt sich immer die Frage, ob sie echt sind, oder etwa manipuliert oder beschnitten. Das ist aber nicht neu. Die Frage der Manipulation ist so alt wie die Fotografie und auch schon in der analogen Fotografie ein Thema.

Braucht es den klassischen Kriegsfotografen noch?

Ja, ich glaube sogar, dringend. Denn diese Kriegsfotografen sind meist Teil einer professionellen Institution, die im Westen grosses Vertrauen geniessen. Sehr schlaue Leute haben mal gesagt, dass man heutzutage nicht mehr dem Bild traut, sondern dem Fotografen. Wenn ich Bilder von Fotografen sehe, die für Agenturen wie Reuters oder AP arbeitet, dann weiss ich, dass diese rausfliegen würden, wenn sie gefakte oder schon nur bearbeitete Bilder ablieferten. Das ist auch schon passiert. Man muss nur eine Wolke rausretuschieren vom blauen Himmel, dann ist die Karriere die Karriere als Agenturfotograf beendet.

Was macht denn aus Ihrer Sicht ein Bild erfolgreich?

Es spielen mehrere Faktoren zusammen. Einerseits die ästhetische Dimension. Ein Bild muss ansprechend, aber gleichzeitig auch ungewöhnlich sein und Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Es sind häufig Bilder, die uns irritieren, weil wir etwas sehen, was wir nicht gleich verstehen. Der zweite Punkt hängt damit eng zusammen. Wenn man sich anschaut, welche Bilder im kollektiven Gedächtnis verankert sind, dann sind das häufig Bilder, die ein Tabu brechen, zum Beispiel das «Napalm-Mädchen» aus dem Vietnamkrieg. Das Bild ist beinahe nicht in der Presse gelandet, da es eine nackte Person in Frontalaufnahme zeigt.

Kim Phuc, das «Napalm-Mädchen», präsentiert sich am 5. Mai 2022 an einer Ausstellung in Mailand vor der Fotografie, die sie berühmt machte. 
Kim Phuc, das «Napalm-Mädchen», präsentiert sich am 5. Mai 2022 an einer Ausstellung in Mailand vor der Fotografie, die sie berühmt machte. 
EPA/Daniel Dal Zennaro

Und der dritte Faktor?

Ein Bild braucht eine Infrastruktur. Am erfolgreichsten sind sie, wenn sie auf dem Pult eines berühmten Bildredakteurs landeten. Wenn ein Bild einmal auf der Titelseite der «New York Times» steht, hat das einen viel höheren Aufmerksamkeitsgrad. Schlussendlich ist es ein Zusammenspiel von Ästhetik, Verbreitungsgrad und von Wiederholung. Bilder leben davon, dass sie immer und immer wieder aufgegriffen werden und so zu einer Ikone werden. Zu einem Platzhalter von einem Thema werden, das man dann gar nicht mehr mit Worten beschreiben muss, zum Beispiel beim Vietnam-Krieg.

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj präsentiert sich gern selbst live auf Instagram, übergeht er damit die klassischen Medienagenturen?

Selenskyj ist ein ganz spezieller Fall, weil er selbst ein Medienmensch ist. Er ist Schauspieler, Produzent und weiss darum, was man vor einer Kamera tut und was nicht. Er ist Weltmeister der Selbstinszenierung und schafft sehr überzeugend den Eindruck, dass gewisse Videos spontan on the spot im Gefechts- und Bombenhagel aufgenommen worden sind. Dabei vergisst man schnell, dass hinter ihm eine riesige Institution steht, das Presidential Press Office, welches natürlich bestens dafür ausgestattet ist, diese visuelle Regierungskommunikation professionell täglich zu betreiben. Die Grenzen zwischen seiner Person und dem Apparat hinter ihm verschwimmen, das ist ungewöhnlich.

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj zeigt sich draussen in Kiew in einem Video, das seine Pressestelle am 8. März auf Instagram postete.  
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj zeigt sich draussen in Kiew in einem Video, das seine Pressestelle am 8. März auf Instagram postete.  
Ukrainian Presidential Press Office via AP/Keystone

Wozu dient diese Offensive?

Es ist der absolute Schlüssel zum Erfolg, um in westlichen Medien oder in sozialen Medien anzukommen, weil es auf der Höhe der Zeit ist. Im Grunde genommen hat Selenskyj einen grossen Sprung nach vorn gemacht, in dem er erkannt hat, dass eine besondere Situation auch besondere Massnahmen braucht. Er hat also aufgehört mit der sogenannten Protokollfotografie, wo er sich im Anzug und Studiolicht zeigt. Stattdessen zeigt er, was vor Ort passiert, und zwar live und sofort, auch während Bombardierungen.

«Selenskyjs Erfolg ist eng verbunden mit einem Misserfolg auf der anderen Seite.»

Mit welcher Wirkung?

Ein Moment, in dem ich wirklich zusammengezuckt bin, war seine Rede, die er vor dem amerikanischen Kongress gehalten hat. Er las zuerst ab von seinem Redemanuskript, dann spielte er ein Video ab, das in Sequenzen und Stillfotos drastische Szenen zeigte, von Schwerverletzten und Toten. Dass ein Parlament direkt mit Bildpropaganda, und in dem Fall meine ich Propaganda nicht negativ, konfrontiert wird, ist neu für mich. Diese Echtübertragung hat eine neue Qualität, denn es entwickelt sich eine unglaublich emotionale Wirkung. Jeder empathiefähige Mensch hat diese Bauchreaktion, das muss aufhören, was da gerade passiert. Das hat auch im Kongress gewirkt.

Aus Russland gibt es kaum Bildmaterial.

Selenskyjs Erfolg ist eng verbunden mit einem Misserfolg auf der anderen Seite. Ich gehe davon aus, dass die russischen Soldaten grossen Ärger bekämen, wenn sie Bilder von Kampfhandlungen veröffentlichten. Zwar ist es auch auf ukrainischer Seite nicht erwünscht, dass Bilder mit sensitiven Informationen zum Beispiel über den Standort eines Panzers zu finden sind. Aber die Ukrainer haben anders als die Russen ein Rieseninteresse daran, Angriffe an der zivilen Bevölkerung gleich publik zu machen. Die russische Seite versucht im Gegenteil dafür zu sorgen, dass wir diese Bilder nicht zu sehen bekommen und sie allenfalls zu diffamieren. Es liegt in der Natur des Krieges, dass die eine Seite ein grosses Interesse hat an der Verbreitung der Bilder, die andere Seite nicht.

Putin selbst macht auf Bildern keine gute Figur. Hat er keine Berater im Rücken wie Selenskyj?

Der Kreml hat zwar auch offizielle Fotografen und eine Website, auf der die Fotos gepostet werden. Man sieht beispielsweise einen Politiker an einem Arbeitstisch, oder einen Politiker, der einem anderen Politiker die Hand schüttelt. Total langweilig. Für Aufmerksamkeit sorgte Putin einzig mit klar inszenierten Auftritten wie seinem Bad in der Menge in einem Stadion voll Menschen, die russische Fahnen schwingen. Das sind Bilder, die in Russland zwar sehr gut ankommen, die der Westen aber nur mit Zynismus wahrnimmt. Die wichtigste Nachricht aus diesem Stadion, die es in den Westen schaffte, war jene, dass die Technik für einen Moment ausfiel und Putin das Wort abgeschnitten wurde.

«Total langweilig» findet Annette Vowinckel die russische Pressefotografie: Hier trifft der russische Präsident Wladimir Putin gerada den CEO der Föderalen Agentur für Atomenergie Russlands, Alexey Likhachev in Moskau, aufgenommen am 19. Mai 2022.  
«Total langweilig» findet Annette Vowinckel die russische Pressefotografie: Hier trifft der russische Präsident Wladimir Putin gerada den CEO der Föderalen Agentur für Atomenergie Russlands, Alexey Likhachev in Moskau, aufgenommen am 19. Mai 2022.  
EPA/MIKHAIL KLIMENTYEV / SPUTNIK / KREMLIN POOL MANDATORY CREDIT/ KEYSTONE

Kümmert sich Putin nicht mehr darum, was der Westen von ihm denkt?

Ich glaube, dass Putin den Westen sehr gut im Blick hat, aber dass er die Medienlogik nicht versteht. Er ist 25 Jahre älter als Selenskyj und nach allem, was wir wissen, nicht besonders gut digital bewandert. Er beherrscht zwar die Form der klassischen Selbstinszenierung, die im 20. Jahrhundert noch gut funktioniert hat. Seither hat Putin in mancher Hinsicht den Anschluss verpasst. Die Kunst, sich authentisch zu inszenieren, beherrscht er nicht annähernd so gut wie der ukrainische Präsident.