Sensationsgier, Medien- und Polizeiversagen 30 Jahre Gladbecker Geiseldrama: Als Kidnapper zu Medienstars wurden

DPA

15.8.2018

Augenzeugen glaubten, es werde ein «Tatort» gedreht: Doch die Geiseln waren echt, die Pistolen in den Händen der Gangster geladen. 54 Stunden lang hielt das Gladbecker Geiseldrama vor 30 Jahren Deutschland in Atem. Drei Menschen starben.

Wo Brigitte Gräber in ihrem Blumenladen «Grüne Oase» heute Rosen verkauft, da hat vor 30 Jahren eines der spektakulärsten Verbrechen der deutschen Nachkriegszeit begonnen: das Gladbecker Geiseldrama. 54 Stunden voller Verzweiflung, Sensationsgier, Medien- und Polizeiversagen nehmen am Morgen des 16. August 1988 im nordrhein-westfälischen Gladbeck (D) ihren Anfang.

Mit Maschinenpistolen bewaffnet überfallen Hans-Jürgen Rösner (damals 31) und Dieter Degowski (damals 32) im Stadtteil Rentfort-Nord eine Deutsche-Bank-Filiale und nehmen zwei Angestellte als Geiseln. Wenig später umstellt die Polizei die Filiale. Die Gangster geben ein erstes Telefon-Interview.

Das Ladenlokal mit der «Grünen Oase», in dem sich früher die Bankfiliale befand, liegt an der Ecke einer heruntergekommenen Einkaufspassage im «Geschäftszentrum Nord». Früher gab es dort viele Geschäfte, jetzt stehen die meisten Läden leer. Die Bankfiliale wurde sofort nach der Tat geschlossen.

Polizist nur in Unterhose bekleidet

«Das ist noch der Originalboden, der damals in der Bank war», sagt Gräber (61) und führt den Reporter zu kleinen Klappen. «Hier gingen die Kabel für die Computerterminals in den Boden.» Auch die Deckenelemente und die doppelte Eingangstür stammen noch aus Bank-Zeiten.

Verbunden durch einen Innenhof ragt auf der gegenüberliegenden Seite ein längst leerstehender Wohnblock mit 13 Stockwerken in die Höhe - eine gewaltige Ruine, die bald abgerissen werden soll. Eine Mitarbeiterin des Blumengeschäfts erzählt zögernd, dass sie vor 30 Jahren in diesem Hochhaus lebte.

Von ihrem Wohnzimmerfenster aus konnte die mittlerweile 64-Jährige in den Innenhof sehen. «Wir hörten laute Stimmen und haben dann geguckt.» Sie habe selbst gesehen, wie ein Polizist nur in Unterhose bekleidet das geforderte Lösegeld vor die Eingangstür legte.

Die Flucht geht Richtung Norden

Bodo Wölk betritt den Laden und kauft eine Rose. Auch der 67-Jährige wohnte schon damals in der Nähe. Er habe das Drama im Fernsehen gesehen, «es gab ja eine Live-Übertragung», erzählt er. In einer Wohnung am Ende der Strasse, an der das Geschäftszentrum liegt, «sassen wir mit unseren Nachbarn zusammen und haben vom Balkon aus geguckt».

Als die beiden Gangster dann am Abend mit ihren Geiseln flüchteten, «standen wir draussen und haben gesehen, wie die vorbeifahren. Das war auch gefährlich, die waren ja bewaffnet.» Die entführten Angestellten habe er gekannt. «Ich war ja Kunde.»

Noch in Gladbeck lassen die Gangster ihre Komplizin Marion Löblich zusteigen. Die Flucht geht Richtung Norden, Polizei und Journalisten bleiben ihnen auf den Fersen. Mehrfach erpressen die Gangster neue Wagen, bevor sie am Mittwochabend an einer Haltestelle in Bremen-Huckelriede einen Nahverkehrsbus mit 32 Fahrgästen kapern. Fünf Geiseln werden noch am Abend wieder freigelassen.

Gespräch mit Journalisten auf offener Strasse

Wenige Stunden später an der Raststätte Grundbergsee dürfen auch die Bankangestellten gehen. Als die Polizei Löblich überwältigt und vorübergehend festhält, tötet Degowski den 15-jährigen Italiener Emanuele de Georgi mit einem Kopfschuss. Auf dem Weg zum Einsatzort verunglückt ein Polizeiwagen. Der 31-jährige Polizeiobermeister Ingo Hagen stirbt, ein weiterer Beamter wird schwer verletzt.

Am frühen Donnerstagmorgen rollt der Bus bei Bad Bentheim über die niederländische Grenze und stoppt etwa fünf Kilometer danach. Im Austausch gegen ein neues Fluchtauto werden fast alle Geiseln freigelassen. Nur mit zwei jungen Frauen setzt das Trio seine Fahrt fort.

Am Vormittag erreichen die Verbrecher Köln. Im Gespräch mit Journalisten auf offener Strasse, mitten in der Fussgängerzone, drohen sie, «zu allem entschlossen» zu sein. Richtung Frankfurt fahren sie am Mittag davon. Für kurze Zeit fährt sogar ein Journalist mit. Auf der A3 bei Bad Honnef dann das Ende: die Polizei rammt das Auto um kurz vor 14 Uhr.

Gedenkstätte für Silke Bischoff

Es kommt zu einer Schiesserei. Die 18 Jahre alte Silke Bischoff wird dabei von Rösner getötet. Neben der Autobahn erinnert heute eine Gedenkstätte an die junge Frau. In Bremen ist am Busbahnhof Huckelriede ein Erinnerungsort an das Geiseldrama geplant.

Live ausgestrahlte Fernseh- und Radiointerviews des Trios, an seiner Seite Geiseln in Todesangst, hatten die Nation am Verbrechen teilhaben lassen. Schon während der Geiselnahme entbrannte in Deutschland eine heftige Diskussion über Grenzen journalistischer Berichterstattungspflicht.

Der Presserat legte später fest, dass es Interviews mit Tätern während des Geschehens nicht geben darf. Der Polizei wurde vor allem vorgeworfen, die Geiselnahme nicht schon viel eher bei mehreren Gelegenheiten beendet zu haben. Die Polizeibehörden überarbeiteten grundlegend ihre Einsatztaktik.

15-Jähriger dem Geiselnehmer «nicht unterwürfig genug»

Rudolf Esders kann sich gut an das Drama erinnern. Am Landgericht Essen führte er als Vorsitzender Richter den Strafprozess gegen Rösner, Degowski und Löblich. Der mittlerweile 78 Jahre alte Jurist erzählt von dem im August 1989 begonnenen Prozess, als wäre er erst kürzlich zu Ende gegangen und nicht schon im März 1991.

Etwa von dem Tod Emanuele di Giorgis, der sich im Bus schützend vor seine Schwester gestellt hatte. «Er war Degowski negativ aufgefallen, weil er nicht unterwürfig genug war.» Degowski habe immer gesagt, das sei ein Versehen gewesen. Esders glaubte ihm nicht: Der Schuss wurde aus zehn Zentimetern Entfernung abgefeuert. «Wenn man eine Kanone in der Hand hat, spürt man Macht und will die ausleben. Macht verführt.»

Doku über Geiseldrama von Gladbeck: Betroffene erzählen

Den Fernseh-Zweiteiler «Gladbeck», der im März zum ersten Mal in der ARD lief, habe er sich natürlich angesehen. «Er hat mir gut gefallen. Ich habe sogar einige Dinge gesehen, von denen ich gar nichts wusste.» Dass es etwa in Bremen eine Gelegenheit gegeben haben soll, «alle drei Täter auf einmal zu - wie die Polizei immer sagt - neutralisieren». Aber der Bremer Justizsenator habe das untersagt.

Täter haben neue Identitäten

Auch der Tod des zweiten Opfers, Silke Bischoff, ist Esders präsent. Aus privaten Gründen fährt er häufiger mit dem Auto nach München - über die A3, an Bad Honnef vorbei, wo die Polizei dem Drama ein Ende bereitete. Denken Sie jedes Mal daran? «Ja, sicher denke ich jedes Mal daran. Ich weiss natürlich noch, wo die Stelle ist.»

Belastet hat ihn der Prozess nicht. «Ich führe das darauf zurück, dass ich die Dinge auf mich hab' zukommen lassen und nicht versucht habe, sie abzuwehren. Wenn Sie sich nicht darauf einlassen, ist das Verdrängung. Das schlägt dann irgendwann zurück. Sie haben dann schlechte Träume oder sonst irgendwelche Probleme. Man muss sich darauf einlassen. Man muss es mit allem Schmerz und aller Grausamkeit nachvollziehen.»

Degowskis lebenslange Haft wurde 2017 zur Bewährung ausgesetzt. Im Februar 2018 wurde er mit neuer Identität aus der Haft entlassen. Rösner, bei dem zusätzlich Sicherungsverwahrung angeordnet worden war, hat ebenfalls einen Antrag auf Entlassung gestellt. Löblich, zu neun Jahren Haft verurteilt, hat ihre Strafe längst abgesessen. Auch sie bekam eine neue Identität.

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