Justus Rosenberg 97 und noch immer Professor: Er rettete Berühmtheiten vor den Nazis

Christina Horsten, dpa

9.7.2018

Justus Rosenberg, letzter lebender Helfer von Varian Fry, sitzt auf seiner Terasse in Rhinbeck, New York. Der Universitätsprofessor half Varian Fry im Zweiten Weltkrieg hunderte Menschen vor den Nationalsozialisten in Sicherheit zu bringen.
Justus Rosenberg, letzter lebender Helfer von Varian Fry, sitzt auf seiner Terasse in Rhinbeck, New York. Der Universitätsprofessor half Varian Fry im Zweiten Weltkrieg hunderte Menschen vor den Nationalsozialisten in Sicherheit zu bringen.
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Die Nazis vertrieben Justus Rosenberg einst aus Danzig. Er floh nach Frankreich und half dem berühmten Freiheitskämpfer Varian Fry, Hunderte Menschen in Sicherheit zu bringen. Inzwischen ist Rosenberg der einzige, der davon noch erzählen kann.

Zum Denken zieht sich Justus Rosenberg am liebsten auf die Terrasse zurück. Das Haus des Literaturprofessors liegt fast ganz am Ende einer Sackgasse im kleinen Örtchen Rhinebeck, rund zwei Autostunden nördlich von New York. Von der Terrasse aus kann Rosenberg die bewaldeten Berge des Hudson Valley sehen. Mit etwas Glück hat seine Frau Karin Erdbeerkuchen gebacken.

Aber oft hat Rosenberg keine Zeit für seine Terrasse. Er lehrt noch immer am nahegelegenen Bard College - trotz seiner 97 Jahre. Rosenbergs Studenten wurden lange nach dem Zweiten Weltkrieg geboren. Viele wissen nichts von der Rolle, die ihr Professor in der Widerstandsbewegung gegen die Nationalsozialisten spielte.

Eltern und Schwester sieht er erst 16 Jahre später wieder

Rosenberg ist das letzte noch lebende Mitglied des Teams um Varian Fry (1907-1967), des US-Journalisten, der in Südfrankreich Anfang der 1940er Jahre ein Rettungsnetzwerk aufbaute und Hunderten Menschen die Flucht vor den Nationalsozialisten ermöglichte. Darunter waren beispielsweise die Philosophin Hannah Arendt, die Künstler Marc Chagall und Max Ernst und die Schriftsteller Heinrich und Golo Mann.

Geboren 1921 in Danzig, war Justus Rosenberg selbst vor den Nazis nach Frankreich geflohen. Seine Eltern waren nicht-praktizierende Juden, die Sprache zu Hause war Deutsch. «Ich hatte ein deutsches Kindermädchen und sie hat mir alle deutschen Kinderlieder beigebracht, die kann ich noch heute.»

Rosenberg ging in Danzig zur Schule, auch als die Nationalsozialisten in Deutschland schon an der Macht waren. «Mein Vater hat gesagt: "Halt durch." Irgendwann war ich der einzige Jude, der noch an der Schule war.» Irgendwann wird die Angst der Eltern zu gross und sie schicken ihren Sohn zu einem Bekannten nach Paris. Dort geht Rosenberg weiter in die Schule und dann an eine Universität. Seine Eltern und seine Schwester wird er erst 16 Jahre später wiedersehen.

«Es war auch einfach ein grosses Abenteuer für mich»

Rosenberg lernt rasch Französisch. «Ich war wie eine Ente im Wasser und begann, mich sehr für die französische Kultur zu interessieren.» 1939 marschieren die Nationalsozialisten dann in Polen ein. Rosenbergs Vater kann ihm kein Geld mehr schicken. 1940 fällt auch ein Grossteil von Frankreich an die Nationalsozialisten. Rosenberg flieht zu Fuss und per Fahrrad in den Süden des Landes, wo er schliesslich in Marseille landet und über Bekannte Varian Fry kennenlernt. «Er fragte mich, wer ich bin, und dann fragte er mich ob ich für ihn arbeiten könne, weil er das alleine nicht schaffen würde. Er sagte: "Wir befragen all diese Menschen, weil sie alle vorgeben, sehr berühmt zu sein. Ich habe die Namen von 200 Menschen und wir müssen sehen, ob wir sie erreichen und ob sie Hilfe brauchen.»

Im Team wird Rosenberg bald «Gussie» genannt. Der unauffällig aussehende junge Mann, der perfekt Französisch, Deutsch und Englisch spricht, lebt mit Fry und den anderen in einem Haus, wird zum Kurier, überbringt teils gefälschte Dokumente und hilft berühmten Menschen wie Heinrich Mann und Franz Werfel persönlich über die Pyrenäen nach Spanien. Den damals schon rund 60 Jahre alten Schriftsteller Werfel tragen Rosenberg und Werfels Frau Alma Mahler-Werfel zusammen über die Berge, jeder einen Arm über der Schulter. «Mir war schon damals bewusst, dass da etwas Historisches passiert. Aber es war auch einfach ein grosses Abenteuer für mich.»

«Ich habe keine Ehrfurcht mehr vor niemandem»

So viele Berühmtheiten kennenzulernen habe ihm aber auch beigebracht, dass Menschen im Grunde alle gleich sind, sagt Rosenberg. «Ich habe keine Ehrfurcht mehr vor niemandem. Und ich erwarte das auch von keinem.» Freiheitskämpfer Fry, der 1941 schliesslich auffliegt und aus Frankreich zurück in die USA ausgewiesen wird, sei kein besonders netter Mensch gewesen. «Er hat sich mit denen, die für ihn gearbeitet haben, auch nur sehr wenig abgegeben.»

Aus Dokumenten geht allerdings hervor, dass Fry sich nach seiner Ausweisung noch um Rosenberg sorgte. «Du musst nach Gussie fragen», schrieb er einer Kollegin, wie die «New York Times» schreibt. Erfolglos. Rosenberg schlägt sich alleine durch, wird festgenommen, kommt wieder frei, stösst zur französischen Untergrundarmee und geht nach dem Ende des Kriegs zurück nach Paris. Kurzzeitig arbeitet er für die Vereinten Nationen, dann engagiert ihn 1946 eine Universität im US-Bundesstaat Ohio als Französischlehrer. «Ich glaube nicht an Glück. Das gibt es nicht. Ich glaube an ein Zusammentreffen von Umständen.»

Nach Jobs an einigen anderen Universitäten landet Rosenberg, der gerade seine Memoiren schreibt, Anfang der 60er Jahre am Bard College - wo er bis heute lehrt. «Vor zwei Wochen habe ich gerade erst wieder einen Uni-Kurs abgeschlossen. Eben bin ich mit dem Korrigieren der Abschlussarbeiten fertig geworden», sagt Rosenberg. Ans Aufhören denkt er nicht. «Ich hätte schon vor mindestens fünf Jahren in den Ruhestand gehen sollen. Aber der Universitätspräsident hat gesagt, dass ich bleiben kann, solange ich will. Und die Studenten geben mir ziemlich gute Bewertungen.»

Die vielen jungen Freunde halten ihn fit

Zum Gehen benutzt Rosenberg einen Stock, aber zum Arbeiten einen Computer. «Mental bin ich komplett fit. Viele Menschen sagen, dass müssen die guten Gene sein, aber das stimmt nicht. Meine Eltern sind ziemlich früh gestorben. Ich bin selbst überrascht, denn ich vergleiche mich gerne mit anderen Menschen - aber ich kann mich nicht mehr mit Menschen meines Alters vergleichen, denn die sind alle tot. Aber ich habe viele junge Freunde und ich glaube, das hält mich fit. Ich bin an der Uni und muss mithalten können. Ich muss wissen, was in der Welt passiert.»

Justus Rosenberg bei einer Diskussionsveranstaltung im Leo Baeck Institut. Der 97-jährige meint: «Geschichte wiederholt sich. Das haben wir schon erlebt und wir werden es auch diesmal überstehen. Zumindest hoffe ich das.»
Justus Rosenberg bei einer Diskussionsveranstaltung im Leo Baeck Institut. Der 97-jährige meint: «Geschichte wiederholt sich. Das haben wir schon erlebt und wir werden es auch diesmal überstehen. Zumindest hoffe ich das.»
dpa

Seine Schwester lebt in Israel. Rosenberg hat die Welt bereist, aber in seiner Geburtsstadt Danzig war er nie wieder. «Ich wollte nicht zurück, denn ich habe so eine romantische Erinnerung an die Stadt.»

Die Amtszeit von Donald Trump als US-Präsidenten und den Aufstieg rechts-populistischer Parteien und Politiker in Europa beobachtet Rosenberg mit Sorge - aber auch mit der Erfahrung eines 97-Jährigen. «Geschichte wiederholt sich. Das haben wir schon erlebt und wir werden es auch diesmal überstehen. Zumindest hoffe ich das.»

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