100 Jahre LibanonAchterbahnfahrt zwischen Blüten und Katastrophen
AP/toko
2.9.2020
In den 100 Jahren seines Bestehens war der moderne Libanon boomendes Wahrzeichen einer pluralistischen Gesellschaft und Schauplatz eines brutalen Bürgerkriegs. Heute fragen sich viele, ob ihr Land noch zu retten ist.
Vor 100 Jahren stellte sich der französische General Henri Gouraud in die Vorhalle des Palastes von Beirut und rief umringt von Politikern und religiösen Würdenträgern den Staat Grosslibanon aus. Zum Jahrestag am 1. September kommt nun wieder ein Franzose zu Besuch: Präsident Emmanuel Macron hat sich zur Geburtstagsfeier angesagt. Aber die Stimmung könnte kaum düsterer sein.
Nach einer Serie von Finanzskandalen sind am 4. August im Hafen der Hauptstadt mehr als 2700 Tonnen Ammoniumnitrat in die Luft geflogen. Die verheerende Explosion tötete mindestens 190 Menschen und verletzte Tausende weitere. Für viele Libanesen war sie der Gipfel jahrzehntelanger Krisen, wuchernder Korruption und Misswirtschaft. Angesichts eines drohenden Staatsbankrotts fragen sich viele Bürgerinnen und Bürger zum 100. Geburtstag ihres Landes, ob sie nicht besser wegziehen sollten.
«Ich bin 53 Jahre alt und habe nicht das Gefühl, dass ich in diesem Land ein stabiles Jahr erlebt habe», sagt der Schriftsteller Alexandre Najjar. Mit acht Jahren erlebte er den Ausbruch des Bürgerkrieges von 1975 bis 1990. In dieser Zeit wurde Beirut zum Synonym für Geiselnahmen, Autobomben und Chaos. Als Teenager sah er 1982 israelische Truppen einmarschieren und Beirut belagern. Als sich christliche Milizen 1989 gegenseitig bekriegten, war Najjar ein junger Mann und er war Ende 30, als eine Autobombe 2005 den ehemaligen Ministerpräsidenten Rafik Hariri tötete.
Ein Jahr darauf lieferten sich Israel und die schiitische Hisbollah einen monatelangen Krieg. Nicht zu vergessen ungezählte andere Konflikte, Ausbrüche sektiererischer Kämpfe und sonstige Katastrophen. Wie Najjar sagt, ist die monströse Explosion am 4. August nur der Gipfel eines gescheiterten Staates und der Beweis, dass die Regierung nicht in der Lage ist, für ein Minimum an öffentlicher Sicherheit zu sorgen.
Vorgezeichnet war diese Entwicklung nicht. Der im Libanon gefundene Ausgleich zwischen den 18 religiösen Gruppen im Land galt als Vorbild für Pluralismus. Ein ungeschriebenes Gesetz schreibt bis heute vor, dass der Präsident immer Christ, der Regierungschef Sunnit und der Parlamentspräsident Schiit sein muss. Weitere Posten werden nach ähnlichem Schlüssel vergeben.
In den 1950er Jahren boomte die Wirtschaft des Landes. Während der Regierungszeit des pro-westlichen Präsidenten Camille Chamoun blühte der Tourismus und arabische Erdölstaaten brachten Geld ins Land. Die 60er und frühen 70er Jahren gelten als die Blütezeit des Libanons. Reiche und Berühmte liessen sich aus der ganzen Welt einfliegen, um im Casino Du Liban ihr Geld aufs Spiel zu setzen oder in der antiken Stadt Baalbek den Berliner Philharmonikern zu lauschen oder den sowjetischen Balletttänzer Rudolf Nurejew zu bewundern. Ella Fitzgerald gab sich mit arabischen Kolleginnen wie der Ägypterin Umm Kalthum und der Libanesin Fairuz die Klinke in die Hand.
Hisbollah dominiert die Politik des Landes
Doch gleichzeitig nutzten militante Palästinenser den Libanon als Ausgangsbasis für Angriffe auf Israel. 1975 gingen die religiösen Gruppen im Libanon aufeinander los und das Desaster des Bürgerkriegs war perfekt. Fast 150000 Menschen wurden getötet, Syrien und Israel marschierten ein. Letzteres konnte zwar die PLO unter Jassir Arafat vertreiben, das jedoch führte zum Aufstieg der schiitischen Hisbollah im Libanon. Sie durfte nach dem Ende des Bürgerkriegs als Einzige ihre Waffen behalten und hielt 2006 auch israelischen Angriffen stand.
Heute verfügt die Hisbollah mit ihren Verbündeten über die Mehrheit im Parlament und dominiert die Politik des Landes. Dennoch ist sie äusserst umstritten. Während viele Schiiten loyal zu ihr stehen und zahlreiche Libanesen mit ihrer anti-israelischen Haltung sympathisieren, werfen ihr andere vor, das Land dem Iran auszuliefern.
Viele Warlords der Bürgerkriegszeit führen heute politische Parteien und versorgen sich und ihre Familien mit Posten. Sie kontrollieren wichtige Teile des Geschäftslebens und bereichern sich. Auch politische Unterstützung wird mit Ämtern in Ministerien und Unternehmen erkauft. Das System der Ämterpatronage lässt die Korruption gedeihen und die Infrastruktur verfallen. Es hat einen aufgeblähten Sektor öffentlicher Beschäftigung geschaffen und zu einer Staatsverschuldung von 170 Prozent des Bruttoinlandsprodukts geführt. 2019 brach das Finanzsystem zusammen, auf dem das wirtschaftliche Wohlergehen des Libanons seit 1990 beruht.
Hoffnungsträger Frankreich
Der Libanon stecke in der schlimmsten Phase der vergangenen 100 Jahre, sagt der Abgeordnete Marwan Hamadeh. «Wir sind derzeit vom Iran und seinen Raketen okkupiert», sagt Hamadeh, der 2004 bei einem Attentat schwer verletzt wurde, für das er die Hisbollah verantwortlich macht.
Mehr als 70 Jahre nach der Unabhängigkeit 1943 erhofft mancher die Lösung von der ehemaligen Mandatsmacht Frankreich. Als Macron kurz nach der Explosion vom 4. August das schwer zerstörte Beirut besuchte, wurde er von einer begeisterten Menge begrüsst. Mehr als 60'000 Menschen haben eine Petition mit der Bitte unterzeichnet, der Libanon solle für zehn Jahre wieder unter französisches Mandat kommen. Doch Macron will davon nichts wissen. «Ihr müsst Eure Geschichte selbst schreiben», sagte er der Menge.
Najjar hat etwa 30 Bücher auf Französisch verfasst und sagt, so katastrophal habe er sich den 100. Geburtstag seines Landes nicht vorgestellt. Doch: «Es gibt noch Hoffnung: Wir haben den Tiefpunkt erreicht und die Dinge können nicht noch schlimmer werden.»