Tragödie mit 852 Toten Auch 25 Jahre nach «Estonia»-Untergang bleiben quälende Fragen

dpa

28.9.2019

Eine undatierte Aufnahme des Unglücksschiffs «Estonia».
Eine undatierte Aufnahme des Unglücksschiffs «Estonia».
Archivbild:  Keystone/EPA

Vor 25 Jahren ist die «Estonia» auf ihrem Weg über die Ostsee versunken. 852 Menschen kamen ums Leben. Wie die Staaten reagierten, löst bei Überlebenden und Angehörigen bis heute Kopfschütteln aus.

Die Erinnerungen von Anders Eriksson an die schreckliche Fahrt mit der Ostseefähre «Estonia» sind auch nach 25 Jahren nicht verblichen. Sein Arbeitskollege mit den beiden Tickets für die Fähre. Das Sightseeing in Tallinn, bevor es zurück nach Stockholm gehen sollte – und dann die beiden plötzlichen lauten Knalle auf der Fähre nach Mitternacht.

Die dramatischen Minuten, in der sich die «Estonia» immer mehr zur Seite neigte. Der Sprung ins Wasser und das stundenlange Ausharren auf See, während das Schiff bereits gen Meeresgrund sank. Dann die Rettung per Helikopter. «Ich kann mich noch ziemlich gut an diesen ganzen Vorfall erinnern. Das sitzt ziemlich tief.»

Die Fähre wurde zum Massengrab

Auch ein Vierteljahrhundert nach dem Untergang kann der heute 70-jährige Schwede eine Geschichte erzählen, die einem noch immer Tränen in die Augen treibt. Eriksson und sein Kollege waren zwei von 989 Menschen, die am Vorabend des 28. Septembers 1994 mit der «Estonia» in Tallinn, der Hauptstadt von Estland, mit Kurs auf Stockholm in See stachen. Doch in Schweden kamen sie niemals an: In der Nacht drang auf halber Strecke plötzlich Wasser in das Schiff ein.

Wie genau es dazu kam, darüber wird seit Jahren gestritten. Bei Sturm und aufgewühlter See bekam die «Estonia» Schlagseite und sank schliesslich innerhalb von nur knapp einer Stunde – und mit ihr Hunderte Menschen.

Für die meisten Passagiere und Besatzungsmitglieder kam jede Hilfe zu spät. 852 Menschen starben bei dem grössten Schiffsunglück der europäischen Nachkriegsgeschichte, darunter mehr als 500 Schweden. Nur von 94 Toten wurden die Leichen geborgen, mehr als 750 Opfer liegen bis heute mit dem Schiffswrack vor der Südküste Finnlands auf dem Grund der Ostsee. Aus der Fähre ist ein Massengrab geworden. Nur 137 Menschen überlebten, unter ihnen Eriksson.

«Da habe ich gemerkt: Ich muss hier raus»

«Um kurz nach zwölf gab es zwei sehr kräftige Knalle, die sich sehr metallisch anhörten. Ich wäre fast aus dem Bett gefallen», erzählt Eriksson. Als er hektisch in Hemd, Hose und Schuhe schlüpfte und aus der Kabine eilte, nahm das Unglück schon seinen Lauf: Die «Estonia» kippte nach Steuerbord. «Das waren zunächst 25, 30 Grad. Da habe ich gemerkt: Ich muss hier raus.»

Bei einer Neigung von 90 Grad führte der Weg nur noch in eine Richtung: «Dann gab es keinen Ausweg mehr für mich, als ins Wasser zu springen.» Im kalten Meer klammerte er sich im Dunkeln an eine umgekippte Rettungsinsel.

Die Bugklappe ist das einzige Schiffteil, das geborgen werden konnte. 
Die Bugklappe ist das einzige Schiffteil, das geborgen werden konnte. 
Archivbild: Keystone

Sechs Stunden später holte ihn ein Retter aus den Fluten der Ostsee. Noch heute hält Eriksson Kontakt zu ihm, auch anlässlich des 25. Jahrestags werden sich die beiden treffen. Am heutigen Samstag wird auf einer grossen Zeremonie in Stockholm der Opfer der Katastrophe gedacht. Kronprinzessin Victoria und ihr Mann Daniel sowie Ministerpräsident Stefan Löfven werden erwartet, später gibt es einen Gottesdienst.

Weshalb ist das Schiff gesunken?

Abgeschlossen haben die Überlebenden und Hinterbliebenen bis heute nicht. «Die wichtigste Frage ist: Warum ist sie gesunken?», fragt sich Lennart Berglund von der Opfer- und Angehörigenstiftung SEA, der bei dem Untergang seine Schwiegereltern verloren hat – «die Grosseltern meiner Kinder», wie er betont. Die Trauer der ersten Jahre sei mittlerweile etwas anderem gewichen, das mit der Reaktion der Behörden zusammenhänge. «Heute ist es mehr Wut und Enttäuschung.»

Experten aus Estland, Finnland und Schweden machten 1997 in einem vielfach kritisierten Untersuchungsbericht ein falsch konstruiertes Bugvisier und seemännische Fehler der Besatzung als wichtigste Ursachen dafür aus, dass die 1980 vom Stapel der Papenburger Meyer Werft gelaufene Fähre so schnell sinken konnte.

Unstrittig ist, dass die Bugklappe sich auf offener See öffnete und abriss – die Klappe war das einzige Schiffsteil, das nach dem Untergang geborgen wurde. Unmengen von Wasser strömten darauf schnell und ungehindert ins Autodeck. Damit hören die Klarheiten aber bereits auf.

Kritik an der Untersuchung

«Die Untersuchung ist Schrott», sagt Jutta Rabe. Die Journalistin recherchiert seit 25 Jahren und hat ein Buch mit neuen Erkenntnissen veröffentlicht. Sie ist überzeugt: Die Auto- und Passagierfähre kann nicht auf die im Untersuchungsbericht beschriebene Weise gesunken sein. Dagegen sprächen einfache physikalische Gesetze und der Fakt, dass unter dem Autodeck noch weitere Decks lagen. «Bei einem Wassereinbruch über das Autodeck hätten die Wassermassen erst die drei unterhalb des Autodecks liegenden Stockwerke fluten und die Luft verdrängen müssen, um das Schiff zu versenken.»

Überlebende von diesen unteren Decks hätten einen anderen Hergang beschrieben, sagt Rabe: Das Wasser sei von unten gekommen. Es bleibe damit nur eine Schlussfolgerung: eine Beschädigung der «Estonia» unterhalb der Wasserlinie.

Der schwedische König Carl XVI. Gustaf gedenkt 2014 der Opfer der «Estonia»-Tragödie. 
Der schwedische König Carl XVI. Gustaf gedenkt 2014 der Opfer der «Estonia»-Tragödie. 
Bild: Keystone

Riss eine Explosion ein Loch in den Bug? Diese Theorie erhielt neues Futter, als eine Untersuchung im Auftrag der schwedischen Regierung zwei militärische Geheimtransporte auf der «Estonia» zumindest einige Tage vor der Katastrophe bestätigte. Opferverbände wollen deshalb wissen, ob der Schiffsrumpf noch intakt ist oder sich ein Loch darin befindet. Sie setzen dabei auf ein neues Verfahren in Estland, fordern eine neue internationale Untersuchung.

Leere Versprechungen der Regierung

Für die Betroffenen bleiben somit 25 Jahre nach der Katastrophe weiterhin grosse Fragezeichen. «Ich weiss immer noch nicht, warum die ‹Estonia› gesunken ist», sagt Eriksson. Es sei beschämend, wie Schweden das Ganze damals gehandhabt habe. «Die Havariekommission hat niemals mit uns Überlebenden gesprochen. Es gab Versprechungen, dass jedes Opfer nach Hause gebracht wird. Aber nichts ist passiert.»

Wrack und Leichen wurden – trotz anderslautender Versprechungen der schwedischen Regierung – nie geborgen. Stattdessen wurde die Fähre per Gesetz zur Grabstätte für die verbliebenen Opfer erklärt.

Eine Entschädigungsforderung von mehr als 1'000 Überlebenden und Angehörigen gegen die französische Prüfungsstelle Bureau Veritas und die Meyer Werft wurde Mitte Juli in Frankreich abgewiesen. Die Kläger konnten nach Auffassung des Gerichts in Nanterre kein grobes oder vorsätzliches Fehlverhalten der Prüfer und der Werft nachweisen.

An den Forderungen nach Antworten zur Katastrophe hat das nichts geändert. Diejenigen, die den Untergang überlebt oder Angehörige dabei verloren haben, wollen endgültige Klarheit, was passiert ist – und glauben letztlich daran, dass diese eines Tages kommen wird. Darauf hofft auch der 68-jährige Berglund – ob er das noch erlebe, wisse er nicht.

Und Eriksson, dessen Arbeitskollege die Tragödie wie 851 weitere Menschen nicht überlebt hat, hofft, dass irgendein Beteiligter am Ende reinen Tisch machen wolle. «Ich glaube, die Wahrheit kommt immer heraus – früher oder später.»

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