«Carlos»-Prozess Verhandlung geschlossen – «Carlos» erfährt Urteil kommende Woche 

Von Silvana Guanziroli

30.10.2019

In Zürich läuft der Prozess gegen den wohl bekanntesten jugendlichen Straftäter der Schweiz. Die Staatsanwaltschaft hat «Carlos» wegen 19 Delikten angeklagt. «Bluewin» tickert live aus dem Gerichtssaal.

18:25 Uhr: Ende des Prozesses

Die Verhandlung ist geschlossen. Deutlich schneller als erwartet. Eigentlich war der Fall auf zwei Prozesstage angesetzt worden.  Ein Urteil wird heute keines mehr gefällt. Ein Gericht wird das Strafmass kommenden Mittwoch verkünden.

18:15 Uhr: «Kampf gegen die Justiz» nicht ganz schlüssig

Die Anklage sieht den durch die Verteidigung beschriebenen «Kampf gegen die Justiz» als übertrieben an. «Carlos» sei kein Opfer, er sei Täter. Als Replik sagt die Staatsanwaltschaft: Die hohe Rückfallgefahr ist gegeben und damit auch die Voraussetzung der Verwahrung.

17:50 Uhr: Gutachten mangelhaft

Gemäss dem Verteidiger habe der Gutachter die Vorgeschichte im Fall «Carlos» nicht berücksichtigt. Ohne die Betrachtung der ungerechtfertigten Inhaftierungen sei aber ein solches Gutachten schlichtweg mangelhaft, sagt der Anwalt.

17:00 Uhr: Antrag der Verteidigung

Der Verteidiger hält fest, dass es im Einzelnen nicht um schwere Straftaten gehe. Seiner Meinung nach liege der Strafrahmen daher bei maximal drei Jahren. Die verbalen Drohungen seines Mandanten seien zudem nie erst gemeint gewesen. Äusserungen wie «Ich bin böse und bringe euch alle um» hätte «Carlos» getätigt, um sein Ziel zu verfolgen. Er wollte raus aus seiner Zelle und in ein anderes Gefängnis verlegt werden.

Der Verteidger beantragt zudem, aufgrund der seiner Meinung nach ungerechtfertigten Haftbedingungen, dass auf eine neuerliche  Bestrafung gänzlich verzichtet werden sollte.


16:40 Uhr: Mit Glasscherbe bewaffnet

Ein Anklagepunkt befasst sich mit einer Glasscherbe. Gemäss Verteidigung hätte «Carlos» damit lediglich die Zellenwand zerkratzt und seinen Namen eingeritzt. Ein Gefängniswärter allerdings sagt aus, der Beschuldigte hätte die Scherbe bei einer Zellenkontrolle hinter seinem Rücken versteckt und in einem weiteren Schritt die Wärter damit bedroht.



15:55 Uhr: Ende der «Härte»

Der Verteidiger fordert ein Ende der «Härte» gegen seinen Mandanten. Zudem sieht er beim Vorwurf der versuchten schweren Körperverletzung eine Absprache bei den Gefängniswärtern gegen den Beschuldigten. 

Die Aussagen bezüglich der gezielten Schläge gegen den Kopf seien aufgrund der leichten Verletzungen fragwürdig, wie er ausführt.


14:45 Uhr: Zwangsfixierung 

Zur schlimmsten Verfehlung sei es gemäss dem Verteidiger fünf Jahre später gekommen. Damals war «Carlos» 15 Jahre alt. Psychiater ordneten in der Klinik während 13 Tagen eine Zwangsfixierung an. Zudem wurde er mit Medikamenten ruhiggestellt. «Er wurde zum Zombie gemacht», so der Verteidiger.

Ein Gutachter der Verteidigung kommt zum Schluss: «Das ist nicht weit weg von Folter.»


14.35 Uhr: Mit zehn Jahren in Handschellen abgeführt

Der Verteidiger spricht über die Vergangenheit von «Carlos». Der erste Kontakt mit den Justizbehörden habe den Beschuldigten geprägt. So sei er mit zehn Jahren der Brandstiftung beschuldigt worden. Auf dem Weg zur Polizei habe man ihm Handschellen angelegt.

Der Vorwurf der Brandstiftung sei später fallengelassen worden. 


14:15 Uhr: Jetzt spricht «Carlos» Verteidiger

Der Verteidiger fordert bei der versuchten schweren Körperverletzung einen Freispruch.

Anders ist es Im Falle der mehrfachen Sachbeschädigung, der mehrfachen Drohung, der mehrfachen Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte sowie der mehrfachen Beschimpfung. Hier ist der Beschuldigte in Teilen geständig.

Bezüglich Bestrafung verlangt der Verteidiger eine angemessene Freiheitsstrafe. «Von einer therapeutischen Massnahme oder gar einer Verwahrung ist aber dringend abzusehen», sagt er.


13:48 Uhr: Der Prozess geht weiter 

Es folgt das Plädoyer des Anwalts eines Gefängnisinsassen. Dieser tritt am Prozess als Privatkläger auf. 

Der Anwalt wirft der Justizvollzugsanstalt und den Strafbehörden vor, sie hätten die Mitinsassen zu wenig vor «Carlos» geschützt. Dieser habe sich in der Gefängnisabteilung als «Boss» aufgespielt. Den Privatkläger traktierte er mit den Worten: «Du bist ein guter Sandsack.» 

Der Gefängnisinsasse fordert eine Schadensersatz-Zahlung und eine Genugtuung in der Höhe von 2'500 Franken.


12:10 Uhr: Mittagspause

Die Verhandlung ist für eine Mittagspause unterbrochen worden. Weiter geht es um 13:40 Uhr. «Bluewin» wünscht guten Appetit.



11:50 Uhr: Staatsanwalt fordert die Verwahrung

Der Staatsanwalt führt aus, welche Bestrafung er für «Carlos» beantragen will. Dafür zählt er die strafmindernden und straferhöhenden Punkte auf.

Demnach seinen die Vorverurteilung durch die Medien sowie die verminderte Schuldfähigkeit durch das Krankheitsbild des Beschuldigten strafmildernd. 

Straferhöhend zu werten sei allerdings, dass der Beschuldigte im Hauptvorwurf nicht geständig sei, zahlreiche einschlägige Vorstrafen habe und diese zudem noch alle hinter Gittern verübt habe. «Nicht mal im Gefängnis kann er sich ordentlich verhalten», so der Staatsanwalt. Zudem fehle bei «Carlos» jede Form von Reue.

Der Antrag der Staatsanwaltschaft: Eine Freiheitsstrafe von siebeneinhalb  Jahren. Danach soll «Carlos» nach Artikel 64 des Strafgesetzbuches verwahrt werden.

«Natürlich ist es krass, einen 24-Jährigen wegzusperren. Hier kommt man aber nicht um die Anordnung einer Verwahrung herum», so der Staatsanwalt. Sonst würde man das Risiko eingehen, dass es künftig ein Todesopfer geben wird. «Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.»


11:40 Uhr: Faustschläge bergen tödliche Gefahr

Gemäss Staatsanwaltschaft bezeichnet «Carlos» sein Box- und Kampfsport-Training als etwas vom Wichtigsten in seinem Leben. Aufgrund seiner so erreichten Kraft bergen seine Faustschläge eine grosse Gefahr. «Das Risiko einer lebensbedrohlichen Verletzung ist bei seinen Schlägen sehr hoch», führt die Anklagebehörde aus. «Er setzt seine Hände als Tatwaffe ein.»

Der Beschuldigte wisse zudem genau, was seine Schläge anrichten können. 2016 wurde er bereits wegen versuchter schwerer Körperverletzung verurteilt. Damals brach er einem Kontrahenten den Kiefer.


11:10 Uhr: Vorwurf der versuchten schweren Körperverletzung

Der Staatsanwalt liest aus der Anklageschrift vor. Es geht um die erste, der insgesamt 19 vorgeworfenen Straftaten – der versuchten schweren Körperverletzung. Im Juni 2018 soll «Carlos» in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies einen Gefängniswärter angegriffen haben. «Carlos» habe dabei mehrfach mit den Fäusten auf den Kopf des Opfers eingeschlagen. Gemäss Staatsanwalt habe der Gefängniswärter «1'000 Schutzengel gehabt», dass er beim Angriff nicht schwerer verletzt wurde. 

Das Opfer erlitt ein leichtes Schädelhirntrauma und Prellungen an der linken Halswirbelsäule. Der Angriff führte beim Geschädigten zudem dazu, dass er sich über Wochen in eine psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung begeben musste.

Weiter werden «Carlos» mehrfache einfache Körperverletzung, mehrfache Sachbeschädigung, mehrfache Drohung, mehrfache Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte sowie mehrfache Beschimpfung vorgeworfen. 


10:50 Uhr: Staatsanwalt spricht von verpasster Chance

Der Staatsanwalt startet mit seinem Plädoyer. Er sagt: «Ich bedaure sehr, dass der Beschuldigte heute nicht erschienen ist. Es wäre eine Chance für ihn gewesen, seine Sicht der Dinge darzulegen.»

Zudem sagt er: «Der Beschuldigte ist kein Opfer und schon gar kein Märtyrer. Er ist Täter.»


10:20 Uhr: Fazit des Gutachters

«Carlos» sei grundsätzlich massnahmefähig und auch -bedürftig, aber nicht willig. Er könne sich für kurze Zeit zwar zusammenreissen und Regeln befolgen, längerfristig halte er das aber nicht durch. Bei einer Therapie bräuchte es einen langen Atem, mit ungewissem Ausgang. 


10:04 Uhr: Richter liest aus Brief vor

Ein Brief, den «Carlos» im Februar 2018 an den Staatsanwalt schrieb, lässt tief blicken. Gerichtspräsident Gmünder liest daraus vor: «Ich will den Kampf und euch besiegen ... Ich bin ein Killer, ein Hitman ... Und ich bin böse und gefährlich ... Ich verabscheue euch.»


09:50 Uhr: Zwangsmedikamentierung

Es wird darüber gesprochen, ob der Beschuldigte gegen seinen Willen medikamentös behandelt werden könne und welche Resultate hier zu erwarten seien. Der Gutachter sieht hier aus medizinischer Sicht eine Möglichkeit. Der Korreferent sieht hier sogar eine Verpflichtung, da es bei «Carlos» bereits zu einem Realitätsverlust gekommen sei und er andauernd angespannt sei. Ansonsten befürchten die Ärzte eine totale Erschöpfung des Beschuldigten – bis hin zum Tode.


«Carlos» bei einer früheren Verhandlung. Dem heute 24-Jährigen wird die nächsten zwei Tage vor dem Bezirksgericht Zürich der Prozess gemacht.
«Carlos» bei einer früheren Verhandlung. Dem heute 24-Jährigen wird die nächsten zwei Tage vor dem Bezirksgericht Zürich der Prozess gemacht.
Keystone

09:40 Uhr: Therapie ohne Mirwirkung erfolgslos

Eine therapeutische Massnahme sei gemäss Gutachter aber nur erfolgsversprechend, wenn «Carlos» aktiv mitmachen würde. Davon sei aber derzeit nicht auszugehen.


09:20 Uhr: Gutachter spricht von Persönlichkeitsstörung

Der Beschuldigte hat dem zuständigen Gutachter im Vorfeld des Prozesses ein Gespräch verweigert. Aufgrund der Unterlagen stellt dieser folgende Diagnose: «Carlos» habe eine dissoziale Persönlichkeitsstörung mit ausgeprägten psychopathischen Wesenszügen. Dazu gebe es Anzeichen für eine hyperaktive Störung bei Erwachsenen (ADHS). Der Gutachter sieht beim Beschuldigten eine sehr hohe Rückfallgefahr. Man müsse damit rechnen, dass er wieder gleiche Delikte begehen wird. Mit einer hundertprozentigen Wahrscheinlichkeit in den nächsten zehn Jahren. 

Gemäss Gutachter reiche eine ausgesprochene Freiheitsstrafe nicht aus, um den Beschuldigten vor weiteren Delikten abzuhalten.


09:10 Uhr: «Carlos» erscheint nicht vor Gericht

Im Vorfeld hat die Verteidigung ein Dispensationsgesuch gestellt. Mit der Begründung: Der psychische Zustand des Beschuldigten habe sich in letzter Zeit mehr und mehr verschlechtert. Gemäss Verteidigung sei er nicht in der  Lage, an der Verhandlung teilzunehmen. Auch weil ihm seit einem Jahr nicht gestattet worden sei, Körperpflege zu betreiben. 

Die Einsatzgruppe «Diamant» war heute Morgen in der Justizvollzugsanstalt und wollte den Beschuldigten ans Gericht überführen. «Carlos» hat die Polizei mit lauter Musik und Kampfposition empfangen. Die Polizei sagte, es sei zu keiner Gewalt gekommen. Wohl aber zu langen Verhandlungen. Am Ende entschied das Gericht schliesslich, dem Dispensationsgesuch stattzugeben. Begründung: «Es wäre nicht verhältnismässig, den Beschuldigten mit Gewalt ins Gericht zu zerren», so der Gerichtspräsident.


09:00 Uhr: Prozessauftakt

Gerichtspräsident Marc Gmünder eröffnet den Prozess. Der Beschuldigte ist nicht im Saal anwesend. Noch ist unklar, wo er sich befindet.


08:30 Uhr: Prozess beginnt mit Verzögerung

Es gab eine Verzögerung bei der Zuführung des Angeklagten vom Gefängnis ins Gericht. Die Verhandlung beginnt mit 30 Minuten Verspätung.


08:00 Uhr: Es kann losgehen

Polizeibeamte überführen den Beschuldigten in diesen Minuten von der Justizvollzuganstalt Pöschwies bei Regensdorf ZH ans Bezirksgericht in Zürich. In rund 30 Minuten werden er und die Richter den Gerichtssaal betreten.

Bei diesem Prozess geht es um Übergriffe, die «Carlos» während seiner Zeit im Gefängnis begangen haben soll. Die Staatsanwaltschaft hat den Sohn eines Schweizers und einer Brasilianerin wegen insgesamt 19 Delikten angeklagt.

Der schwerwiegendste Vorwurf ist der Angriff auf einen Gefängniswärter im Juni 2017.

«Carlos», der zu diesem Zeitpunkt in der Zürcher Justizvollzugsanstalt einsitzt, soll in die Sicherheitsabteilung verlegt werden. Als der Leiter der Gefängnisabteilung ihm dies eröffnet, verliert der Jugendliche die Beherrschung. Zuerst droht er: «Jetzt erkläre ich euch den Krieg.» Dann greift er zu einem Stuhl und wirft ihn quer durch den Raum. Ein ebenfalls anwesender Gefängniswärter drückt den Alarmknopf. Just in dem Moment schlägt «Carlos» zu. Er prügelt mindestens zweimal mit der Faust auf den Kopf des Mannes ein. Er trifft ihn so hart, dass dieser zu Boden geht. Erst eine sechsköpfige Interventionseinheit, die zur Sicherheit im Nebenzimmer postiert war, kann «Carlos» von seinem Opfer wegzerren.

Neben tätlichen Angriffen stösst der Straftäter auch immer wieder verbale Drohungen gegen die Gefängniswärter aus. So kündigt er mehrfach an, er schlage jeden kaputt, der in seine Zelle komme: «Ich bringe euch alle um.»

Der Prozess ist auf zwei Tage angelegt. Die Zürcher Staatsanwaltschaft hat «Carlos» wegen versuchter schwerer Körperverletzung, mehrfacher einfacher Körperverletzung, mehrfacher Sachbeschädigung, mehrfacher Drohung, mehrfacher Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte sowie wegen mehrfacher Beschimpfung angeklagt. Das geforderte Strafmass wird die Anklagebehörde erst während des Prozesses bekannt geben.

«Carlos» erlangte im August 2013 traurige Berühmtheit durch die SRF-Sendung «Der Jugendanwalt». Im «Reporter»-Film wurde der damals 17-Jährige porträtiert, der in einem behördlichen Sondersetting untergebracht war. Trotz seiner jungen Jahre war «Carlos» damals bereits wegen 34 Delikten verurteilt worden.

Die Reaktionen in der Bevölkerung waren heftig und zogen sich über Monate hin. Denn die Kosten des Sondersettings betrugen monatlich 29'200 Franken, und eine Massnahme zur Rehabilitierung des gewaltbereiten Jugendlichen war ausgerechnet ein Box-Training.

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