Hass, Gewalt und Mord So radikalisiert die Pandemie weltweit Teile der Gesellschaft

Von Philipp Dahm

23.9.2021

Aggressionen im Covid-Testcenter

Aggressionen im Covid-Testcenter

Wer ein Covid-Zertifikat will und weder genesen ist noch geimpft, muss sich testen lassen. Gerade in der Innerschweiz, wo die Impfquote tief ist, sind die Testzenter deshalb auf lange Zeit hinaus ausgebucht. Die Angestellten müssen zum Teil harsche Beschimpfungen einstecken.

22.09.2021

Nicht nur in Bern arten Proteste gegen die Corona-Politik aus: In Kanada werden Gastronomen bedroht, Griechenland wird zum «Irrenhaus», in Deutschland wird auch vor Mord nicht zurückgeschreckt.

Von Philipp Dahm

23.9.2021

Spaltet die Seuche die Gesellschaft? Das ist schwer zu sagen, doch Fakt ist, dass die Pandemie in ihrem Verlauf Teile der Gesellschaft radikalisiert. Das zeigt sich auch in der Schweiz.

Etwa, wenn ältere Herren Reportern der «Rundschau» Anfang September bekunden, «Ihr lebt gefährlich da», als diese einen Flohmarkt in Sarnen OW besuchen. Oder am vergangenen Donnerstag in Bern, als ein Protest von Gegnern der Corona-Politik vor dem Bundeshaus ausartet und in einem Wasserwerfer-Einsatz endet – Reizgas und Gummi-Schrot inklusive.

Krawall am Donnerstagabend auf dem Berner Bundesplatz.
Krawall am Donnerstagabend auf dem Berner Bundesplatz.
Bild: Keystone

Die folgenden Beispiele beweisen, dass das Phänomen weltweit anzutreffen ist.

Australien

Eigentlich wollten bloss ein paar Bauarbeiter demonstrieren, denen die neue Impfpflicht in Australien auf den Zeiger geht. Doch die Demonstration in Melbourne ist am Dienstag völlig aus dem Ruder gelaufen.

1000 bis 2000 junge Männer sind durch die Stadt gelaufen, haben den Verkehr lahmgelegt und «Fick die Impfung» und «Jeden Tag» skandiert, weil sie so lange täglich auf die Strasse gehen wollten, bis die Massnahme zurückgenommen wird.

'The Worldwide Rally for Freedom wurde bereits am 18. September eingeläutet: Auch damals kam es in Melbourne zu Ausschreitungen.
'The Worldwide Rally for Freedom wurde bereits am 18. September eingeläutet: Auch damals kam es in Melbourne zu Ausschreitungen.
KEYSTONE

Es bleibt zu hoffen, dass diese anders verlaufen werden als am Dienstag. Der Mob hatte offensichtlich keinerlei Interesse an Diskussionen, sondern schritt knallhart zur Tat: Polizisten und Journalisten waren Ziel ihrer Angriffe. 61 Personen wurden festgenommen und drei Polizisten verletzt, berichtet der «Guardian».

Die Gewerkschaft, die den Protest organisiert hatte, distanzierte sich von den Krawallen. Einige der Bauarbeiter seien gegangen, als «Neo-Nazis und rechte Extremisten» gewalttätig wurden und das Kommando übernommen hätten.

Verletzt wurde dabei auch ein Journalist: Paul Dowsley und sein Team wurden erst mit Urin übergossen, dann tätlich angegriffen und zu schlechter Letzt wurde der Reporter von einer Dose am Hinterkopf getroffen, die ihm eine klaffende Wunde beschert hat.

«Fuck the Media» haben die Teilnehmer dem Mann von «7 News» zugerufen, doch andere Demonstranten haben sich auch bei ihm und seinem Team erkundigt, ob es ihnen gut gehe, sagte er. «Ein Mann kam von der Seite und hat mich am Nacken gepackt. Andere kamen hinzu und haben eine Schlägerei begonnen.»

Kanada

Wie radikal die Stimmung einiger Kanadier ist, haben die Betreiber eines Restaurants in Calgary erfahren müssen. «The Langdon Firehouse Bar and Grill» hat vorerst seine Tore geschlossen, nachdem Drohungen und Beschimpfungen auf das Lokal eingeprasselt sind.

Der Grund: Die Besitzer wollten nur noch Gäste bedienen, die geimpft, genesen oder getestet sind. Die negativen Reaktionen – sowohl offline als auch online – seien «überwältigend» gewesen, schreiben die Betreiber in einem Facebook-Post.

Die fixen Ideen einiger Leute seien «zu Wut und Hass geworden. Das hat uns auf eine Art getroffen, mit der wir nicht gerechnet haben». Vorerst würden nur Gerichte zum Mitnehmen angeboten, die Schliessung werde aber nur so lange dauern, bis sich die Lage und die Hater beruhigt hätten.

Brasilien

Mitunter kann eine extreme Haltung auch von einer Regierung ausgehen – wie im Fall von Brasilien: Präsident Jair Bolsonaro ist ein erklärter Impfskeptiker, doch der Populist ist dennoch zur UNO-Vollversammlung nach New York gereist, wo er am Dienstag eine Rede hielt.

Darin sagte er, Brasilien sei gegen Impfausweise und stehe zur Behandlung von Corona mit Mitteln, die – vorsichtig ausgedrückt – umstritten sind wie beispielsweise das Malaria-Medikament Hydroxychloroquin – obwohl sein Land nach den USA mit gut 591'000 Opfern die meisten Toten zu beklagen hat.

Die UNO hat vorgegeben, dass nur Geimpfte anreisen dürfen, doch entsprechende Ehren-Erklärungen werden von der Welt-Organisation nicht kontrolliert. Sprich: Auch Bolsonaro hat angegeben, dass er den Schuss bekommen hat. Doch während die UNO auf Vertrauen setzt, zieht die New Yorker Gastronomie Kontrollen vor.

Anders ist es nicht zu erklären, dass das Boulevardblatt «New York Post» Brasiliens Präsidenten dabei zeigt, wie er mit seiner Entourage eine Pizza auf dem Trottoir isst – frei nach dem Motto: «Regeln? Gelten für die anderen!» Die Nachricht, dass ausgerechnet sein Gesundheitsminister Marcelo Queiroga in New York positiv auf Corona getestet worden ist, rundet dieses unschöne Bild nahtlos ab.

Deutschland

Er war ein Student, der sich durchs Jobben in der Tankstelle über Wasser gehalten hat. Als der 20-Jährige am Samstagabend einen 49-Jährigen im süddeutschen Idar-Oberstein auffordert, eine Maske aufzusetzen, verlässt der Angesprochene die Tankstelle, holt eine Pistole und schiesst dem jungen Kassierer in den Kopf. Der Student ist sofort tot.

Blumen, Kerzen und Botschaften an das Opfer liegen am 21. September an einer Tankstelle in Idar-Oberstein.
Blumen, Kerzen und Botschaften an das Opfer liegen am 21. September an einer Tankstelle in Idar-Oberstein.
KEYSTONE

Nach seiner Festnahme hat der Täter Medienberichten zufolge den Ermittlern gesagt, dass er die Corona-Massnahmen ablehne, die Situation der Pandemie habe ihn stark belastet, er habe ein Zeichen setzen wollen. Die Gewalt, warnt die «Frankfurter Allgemeine Zeitung», sei auf dem Weg, gesellschaftlicher Alltag bei unseren Nachbarn im Norden zu werden.

«Ein falsches Wort, ein falscher Blick, ein falscher Schritt und schon bricht das dünne Eis der Zivilisation. Jeder kennt das Phänomen, weil die Enthemmung mittlerweile allgegenwärtig ist. Die Frage ist, was Ursprung, was Folge ist: die politische Radikalität, die in die Erbarmungslosigkeit führt, oder, was das Zeug zum Massenphänomen hat, die in Krisenzeiten aufgeladene Nervosität und die alltägliche Gnadenlosigkeit, die im politischen Extremismus enden können», schreibt die Zeitung.

Griechenland

Seit dem Schulbeginn in der vergangenen Woche bekommen griechische Lehrer immer wieder Ärger mit coronakritischen Eltern und Pandemie-Leugnern. Die Pädagogen wurden zum Teil angezeigt, weil sie bei Schülern die verbindliche Masken- und Testpflicht durchsetzten, berichteten griechische Medien.

Am Mittwoch musste das griechische Bürgerschutzministerium deshalb sogar verfügen, dass die Polizei im Falle solcher Klagen gegen Lehrer nicht eingreifen soll und Betroffene nicht auf dem Revier erscheinen müssen.

Als ersten Vorfall nannte die griechische Tageszeitung «Kathimerini» in einem Bericht ein Elternpaar in der Stadt Katerini, das darauf bestand, die Tochter ohne Test und Maske in die Primarschule zu schicken. Es folgten weitere Fälle; in der Stadt Kaminia verklagten Eltern die Schulleitung, auf der Insel Syros klagte eine Mutter gegen eine Lehrerin – jeweils, weil das Kind nicht ohne Maske und Test in die Schule gelassen werden sollte.

Auch du, Griechenland: Die Polizei schreitet am 11. September in Thessaloniki ein, als ein Anti-Corona-Protest ausartet.
Auch du, Griechenland: Die Polizei schreitet am 11. September in Thessaloniki ein, als ein Anti-Corona-Protest ausartet.
KEYSTONE

Die griechische Regierung will die Pädagogen nun per Gesetz aus der Schusslinie nehmen. Auch Ärzte sind von den Aktionen der Impfgegner und Corona-Leugner betroffen. So gab es in den vergangenen Wochen in Griechenland Fälle, bei denen Covid-Patienten nicht beatmet werden wollten, weil sie die Existenz des Virus bestritten.

Mehrere Ärzte, die dennoch pflichtgemäss beatmeten, wurden angeklagt. Sogar drei Exhumierungen wurden bereits verfügt, weil Hinterbliebene an der Todesursache Covid-19 zweifelten. «Es ist mittlerweile ein Irrenhaus», kommentierte am Dienstag der griechische Virologe Marios Lazanas im Fernsehsender Skai und forderte die Regierung auf, die Ärzte bei ihrer Arbeit zu unterstützen und vor Klagen von Corona-Leugnern zu schützen.

Mit Material von dpa.