Psychologen nennen Gründe Darum interessiert das «Titan»-Unglück mehr als die Flüchtlingsboot-Katastrophe 

uri

24.6.2023

Bootskatastrophe vor Griechenland: Rund 200 Pakistaner unter Opfern befürchtet

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23.06.2023

Der Tod der fünf Männer an Bord der «Titan» hat die Schlagzeilen über Tage bestimmt. Viele Menschen fühlten mit den Abenteurern mit. Die mehr als 600 Tote an Bord eines Flüchtlingsboots interessierten dagegen relativ wenig. Psychologen erkennen Gründe für die Diskrepanz. 

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Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Das Unglück um die «Titan» hat ein viel grösseres mediales Interesse nach sich gezogen als jenes um ein Flüchtlingsboot vor der griechischen Küste Mitte Juni –, obwohl hier viel mehr Menschen starben.
  • In den sozialen Netzwerken und den Medien wird heftig über die Ungleichbehandlung der beiden Ereignisse diskutiert.
  • Für Psychologen gibt es Gründe, warum beide Fälle unterschiedlich aufgenommen werden. 

Tagelang hat die Rettungsaktion für die fünf Menschen in der verschollenen «Titan» die Berichterstattung dominiert. Nur wenige Tage zuvor verunglückte vor der griechischen Küste ein Flüchtlingsschiff. Man geht inzwischen davon aus, dass dabei mehr als 600 Menschen starben, darunter alle Frauen und Kinder an Bord, weil sie unter Deck keine Chance hatten.

Dieses – zumindest was die reinen Opferzahlen angeht – bedeutend grössere Unglück ist unterdessen rasch von der Bildfläche verschwunden. Die Diskrepanz hinsichtlich des öffentlichen Interesses hat zu Diskussion in den sozialen Netzwerken und den Medien selbst geführt.

Medienexperten und Psychologen haben unterdessen Erklärungsansätze, warum die Ereignisse sowohl medial unterschiedlich gewichtet werden, aber auch bei den Lesern unterschiedlich gut ankommen. Tatsächlich sei es eine Kombination verschiedener Faktoren, die hier zusammenkommen, sagte der Zürcher Medienpsychologe Daniel Süss dem SRF.

Identifikation und Sensation

Nicht zuletzt sei die Vorstellung, auf einem «U-Boot festzustecken, albtraumhaft» und jeder könne sich ausmalen, wie hilflos man sich dort fühlen würde. Zudem sei das Verschwinden eines solchen Tauchboots, noch dazu auf dem Weg zur weltbekannten «Titanic» etwas Besonderes, so Süss.

Im Gegensatz dazu müsse man hingegen «leider sagen», dass Unglücke mit Flüchtlingsbooten häufiger vorkämen: «Da hat auch eine Abstumpfung stattgefunden», befindet der Wissenschaftler.

Auch sei es möglich, dass viele der User sich nicht mit den Flüchtenden identifizierten, so Süss. Im Gegenzug gelte im Fall der reichen «Titanic»-Abenteurer, dass hier ähnliche Mechanismen wirkten, «wie wenn berühmte Menschen krank werden». Das Interesse sei dann häufig gross, obwohl es wenig Gemeinsamkeiten gibt. Er denke deshalb nicht, dass es hier «hauptsächlich um Identifikation geht», so Süss.

Die griechische Küstenwache veröffentlichte ein Foto des überfüllten Flüchtlingsbootes. 
Die griechische Küstenwache veröffentlichte ein Foto des überfüllten Flüchtlingsbootes. 
Bild: Keystone/AP Hellenic Coast Guard

Unterdessen bringt der deutsche Psychologe Markus Heldmann aus seiner Forschung einen Ansatz ins Spiel, der gerade auf Identifikation verweist. So könne man von «einer Arithmetik des Mitleids sprechen», sagte er dem Norddeutschen Rundfunk. Und hierbei gelte: Je weniger Personen von einem Unglück betroffen seien, desto mehr könnten Menschen mitfühlen «und desto eher sind wir auch bereit zu helfen». Handle es sich hingegen um viele Menschen, fühle man sich weniger betroffen, weil man sich in diese Gruppe von Personen nicht hineinversetzen könne.

Tauchboot-Unfall deckt viele Nachrichtenfaktoren ab

Der Tauchboot-Unfall decke jedenfalls viele Nachrichtenfaktoren auf einmal ab, sagt Experte Süss. Weil das Ereignis selten sei, bekomme es grundsätzlich Aufmerksamkeit. Daneben biete die Geschichte einen «Countdown-Faktor». Zudem könnten die Medien sie gut visualisieren und viele Hintergrundinformationen liefern.

Hinsichtlich der Kritik an der medialen Berichterstattung müssten sich die Medien schon überlegen, wohin sie die Aufmerksamkeit lenken, meint Süss. Es bestehe nämlich durchaus die Gefahr, dass die Relationen aus dem Blick geraten würden und den Leuten womöglich ein falsches Bild von Wichtigkeit vermittelt werde.

Anderseits verweist er auch auf den Konkurrenzdruck unter den verschiedenen Medien. Veröffentliche eines «neue Informationen oder gar einen Primeur, müssen die anderen nachziehen».