50. Todestag von Martin Luther King Das ist Amerika: Der soziale Graben zwischen Schwarz und Weiss

Michael Donhauser, dpa

31.3.2018

Das soziale Gefälle zwischen Schwarz und Weiss bleibt ein prägendes Problem der Vereinigten Staaten. 50 Jahre nach dem Tod von Bürgerrechtler Martin Luther King hat sich für viele Afroamerikaner vieles gebessert. Manche Nachteile sind weiter extrem. Eine Erkundungstour.

Die Fahrt geht vorbei an Bauten, die aussehen wie Häuser von einstigen Betreibern von Baumwollplantagen. Wie kleine Paläste reihen sich die Villen im Nobelviertel Central Gardens entlang der Central Avenue aneinander, eingefasst von hohen Hecken, beschattet von alten Weisseichen. Die Eingangsportale von Säulen gesäumt - Memphis, ein Südstaatenidyll.

Charlie Morris wohnt weiter draussen. Flachbau-Bungalows prägen hier das Bild der rechtwinklig angelegten Strassen. Die Autos vor den Garagen sind kleiner, rostiger. Memphis ist seine Heimat, geboren wurde er etwas ausserhalb, in Arlington. 97 Jahre ist Charlie alt. Das Haar ist weiss, der Schritt schwer. Ein Rollator hilft ihm durch den Alltag.

Zwischen den Anwesen in Central Gardens und Charlie Morris' Viertel liegen nur zehn Autominuten - und eine Farbe. Die Villengegend ist vorwiegend von Weissen bewohnt. Charlie Morris und seine Nachbarn sind Afroamerikaner, wie zwei Drittel der Menschen in der Stadt, wo Soul-Legenden wie B.B. King zu Hause waren. 50 Jahre nach der Ermordung des schwarzen Bürgerrechtlers Martin Luther King jr. ist die Trennung nach Hautfarben in den USA per Gesetz längst Geschichte. Doch die Lebensumstände der schwarzen Minderheit haben das Niveau der weissen Mehrheit noch immer nicht erreicht.

Ein alltägliches Verbrechen

In Memphis, im US-Südstaat Tennessee, wo Martin Luther King am 4. April 1968 auf dem Balkon seines Hotelzimmers erschossen wurde, wird vieles noch deutlicher als in anderen Gegenden. Die Stadt und das Land feiern den Bürgerrechtler. Besucher aus aller Welt kommen, um das Civil Rights Museum zu sehen, eingerichtet in jenem Lorraine Motel, wo King starb.

«Das Telefon klingelte, meine Tante rief an», berichtet Charlie Morris aus dem Jahr 1939. Damals war er 18, sein Bruder Jesse Lee Bond war 20. Die Tante erzählte ihm von dem Geschehen, das Charlie Jahrzehnte fesseln sollte. Jesse Lee war mit einem weissen Händler über die Frage in Streit geraten, ob ihm eine Rechnung für Saatgut zustand.

«Plötzlich fielen Schüsse», sagt Morris. Anschliessend sei die Leiche seines Bruders geschändet worden. «Sie haben ihn kastriert», berichtet er mit unaufgeregter Stimme, als er im Morgenmantel in seinem Wohnzimmer sitzt.

Lynchmorde wurden und werden verschwiegen

In der Hand hält Charlie Morris die Sterbeurkunde von Jesse Lee Bond: «Tod durch unfallbedingtes Ertrinken» steht dort. «Meiner Tante haben sie erzählt, sie werde ihren Job als Lehrerin verlieren, wenn sie die Wahrheit sagt, vielleicht auch ihr Leben», erzählt er. Die Tante war eine der wenigen Zeugen des auf offener Strasse verübten Mordes.

Diese Lynchmorde zählen weiter zu den heftigsten Beispielen für das auch 50 Jahre nach Martin Luther King wohl grösste gesellschaftliche Problem der USA: die Ungleichheit von Schwarzen und Weissen. Die staatliche Vertuschung von rassistisch motivierten Gewaltverbrechen gehört zwar weitgehend der Vergangenheit an. Dafür, dass sie ganz ausgelöscht ist, legt aber kaum jemand die Hand ins Feuer.

«Die Schwarzen landen immer am Ende»

Noch spürbarer: die soziale Ungleichheit. «Man kann sich jede Statistik hernehmen, die man möchte: Die Schwarzen landen immer am Ende», sagt Professor André Johnson von der Universität Memphis.

Die Arbeitslosenrate schwarzer US-Bürger hat sich in jüngster Zeit derjenigen der Weissen angenähert, liegt aber fast drei Prozentpunkte höher. Schwarze haben ein deutlich niedrigeres Haushaltseinkommen. Einen Highschool-Abschluss schaffen fast 90 Prozent der weissen Jugendlichen, aber nur 75 Prozent der Afroamerikaner.

«Die Schwarzen starteten in diesem Land als Sklaven, sie hatten nichts. Das wirkt sich bis heute aus», sagt Professor Johnson. Martin Luther King jr. hatte das erkannt. Mit seiner Poor People's Campaign machte er sich für höhere Einkommen Schwarzer stark und für mehr Jobs. Andere Bürgerrechtler, darunter Malcolm X (1925-1965), gaben seiner gewaltlosen, auf Dialog mit der Mehrheit setzenden Strategie keine Chance. Diese Fraktion warb für harte Konfrontation.

Desaströse Mischung aus Frustration und Rassismus

Ronald Moten ist ein Cousin von Malcolm X. Der 48-Jährige lebt in Anacostia, im rauen, oft vernachlässigten Südosten Washingtons. Die US-Hauptstadt ist zu mehr als der Hälfte von Schwarzen bewohnt, in Anacostia sind es 99 Prozent. Auf der Martin-Luther-King-Jr.-Avenue betreibt er einen kleinen Laden, dort wo sich die Strasse mit der Good-Hope-Road kreuzt.

Moten kennt das Leben auf der Strasse, an den Rändern der grossen US-Städte. Der Händler weiss um die kurzfristige und die langfristige Wirkung von Drogen, er kennt Bandenkriege und das Leben im Gefängnis. Er beschreibt eine desaströse Mischung aus Frustration, verstecktem und offenem Rassismus, teils gepaart mit Trägheit und Selbstaufgabe.

Pastor Dennis Washington von der Anacostia River Church in Washington kennt das nur zu gut. «Wahlbezirke und Schulsprengel werden so zugeschnitten, dass die Schwarzen aussen vor bleiben», sagt er. Mindestlöhne werden umgangen. Washington spricht von «rassistischem Terror», dem Afroamerikaner ausgesetzt seien. «Es wird auf eine Art und Weise gemacht, dass man es fast nicht sehen kann», sagt er.

Schwarze werden in die Kriminalität getrieben

Junge Schwarze würden geradezu in die Kriminalität getrieben - und dann vom System verschluckt. «Erst bekommen sie wegen eines kleinen Deliktes eine Fussfessel. «Das ist oft der erste Schritt», sagt Washington. Dann kriegen sie keine Freunde mehr, keine Berufsausbildung - und rutschen ab.

Junge Schwarze werden auch viel häufiger von der Polizei grundlos gestoppt, müssen ihre Papiere zeigen, manchmal werden sie aufs Revier mitgenommen. Manchmal werden sie erschossen, wie jüngst in Sacramento Polizisten 20 Schüsse auf einen jungen Schwarzen in dessen Garten abgaben. Sie dachten, er hätte eine Waffe. Es war ein Handy.

Die Haftanstalten zwischen Florida und Alaska sind voll. Kein anderes freies Land der Welt steckt einen so hohen Anteil seiner Bevölkerung ins Gefängnis wie die Amerikaner. Schwarze Männer machen 35 Prozent der Gefängnisinsassen aus. Jedoch sind nur rund 13 Prozent der Bevölkerung dunkler Hautfarbe. «Du kommst aus einer freien Gesellschaft, und im Gefängnis hast du kaum noch Rechte», sagt Duprée. «Du wirst behandelt wie ein Tier.»

Das schwarze Amerika gehört dazu

Trotz all dieser Probleme: Das schwarze Amerika gehört unverrückbar zu den Vereinigten Staaten. 40 Millionen Menschen dunkler Hautfarbe leben in den USA. Viele sind erfolgreich, manche werden berühmt. Der dunkelhäutige Barack Obama wurde für zwei Amtszeiten zum Präsidenten der über 320 Millionen Einwohner gewählt.

Das war nur wenige Jahrzehnte nachdem mit der Abschaffung der «Jim Crow»-Gesetze die Segregation der Schwarzen gesetzeswidrig wurde. Davor hiess es noch «gleichberechtigt, aber anders»: Schwarze mussten im Bus aufstehen, wenn sich ein Weisser setzen wollte. Und sie durften nicht aus demselben Wasserhahn trinken.

Geschichte wird nur in Teilen erzählt

Heute hat sich vieles gewandelt, vieles zum Positiven. Doch nicht alles ist gut. Es kommt weiter vor, dass Leistungen Schwarzer nicht in die Öffentlichkeit gelangen. Die Jack-Daniel's-Brennerei in Lynchburg in Tennessee ist ein Beispiel. Firmengründer Daniel hatte einen früheren Sklaven als ersten Master-Distiller angestellt. Auf einem alten Foto, aufgetaucht in den 1980er Jahren, sitzt ein junger Afroamerikaner neben dem Chef - vermutlich der Sohn dieses schwarzen Whiskey-Machers.

«Es ist besser geworden», urteilt Allison Jones. Sie arbeitet an einer Montessori-Schule im Herzen Washingtons, wo Kinder aller Hautfarben lernen und toben. Sie lebt im Stadtteil Columbia Heights, einst vor allem von Afroamerikanern bewohnt und für Besucher gefährlich. Heute ist das Gebiet teuer und angesagt, weisse Hipster feiern in Bars mit afroamerikanischen Gleichgesinnten.

Allison hat weisse Freunde und Nachbarn, spricht mehrere Sprachen. «Ich bin privilegiert», sagt sie. «Meine Eltern waren gebildet.» Schulbildung bleibt der Schlüssel für den Aufstieg Schwarzer.

Schwarze Stars als Vorbilder

Weisse hören schwarze Musik, lassen sich von schwarzen Ärzten operieren, von schwarzen Köchen verwöhnen und vertrauen ihr Geld schwarzen Bankern an. Sie jubeln im Sport schwarzen Stars zu, die Tennisspielerin Serena Williams ist ein Beispiel und natürlich der Grösste: Boxer Muhammad Ali.

Wo er einst die Wurzeln für seine Karriere legte, im Columbia Gym von Louisville in Kentucky, trainiert heute der sportliche Nachwuchs der Spalding Universität. In dem historischen Gründerzeit-Bau, wo Muhammad Ali, damals noch unter seinem Geburtsnamen Cassius Clay, durch die Ringseile stieg, schwitzen junge Schwarze. Der staubige Ring ist einem modernen Kraftraum gewichen.

Charlie Morris aus Memphis hat nie aufgegeben. «Auf mich muss kein Mensch achten, Gott achtet auf mich», sagt Morris. Gottesfürchtigkeit und frommes Leben lässt unzählige Schwarze besser ertragen, was sie als grosse Chancenungleichheit ansehen. Als Morris als Teenager vom Tod seines Bruders erfuhr, schnappte er sich eine Pistole und wollte sich rächen. «Meine Mutter hat es mir ausgeredet.» Neun Jahre lang sei er voller Hass gewesen. «Dann habe ich zu Gott gefunden.» Heute sagt er über sein Leben: «Ich kann mich nicht beschweren.»

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