Flüchtlinge Der Eisdielenbesitzer und die «Todsünde» von Lampedusa

dpa

3.10.2018

Ein Mann fährt mit seinem Boot zum Fischen. Da liegen vor ihm im Meer auf einmal Hunderte schreiende Menschen. Vito Fiorino war bei dem Flüchtlingsunglück von Lampedusa vor fünf Jahren als erster vor Ort und rettete, wen er retten konnte. Warum er dennoch kein Held wurde.

Das Eis bei Vito Fiorino gilt zu recht als eines der besten auf ganz Lampedusa. Salzige Butter, wilder Fenchel, Lakritze. Früher schuf Vito nicht nur ausgefallene Eissorten. Er fuhr auch gerne mit seinem Boot «Gamar» vor der italienischen Insel zum Fischen aufs Meer. Bis zu jenem 3. Oktober vor fünf Jahren. Es war einer dieser Herbstabende, wenn das Wasser noch warm, die Luft noch lau und die Stimmung besonders gut ist. Sie war so gut, dass sich Vito zusammen mit seinen sieben Freunden das erste Mal dazu entschloss, über Nacht auf dem Meer zu bleiben und auf dem Boot zu schlafen.

Es war gegen 6 Uhr, als Vito erwachte und sich sein Leben für immer verändern sollte. Er kann sich sehr gut an diese Uhrzeit erinnern. Sie sollte später noch einmal wichtig werden. Sein Kumpel Alessandro habe auf einmal Wimmern, menschliche Laute wie leise Schreie gehört. «Ich habe gesagt, "Nein Alessandro, es sind Möwen, es sind Möwen"», sagt Vito. «Aber auf einmal tat sich vor mir eine Szenerie auf, wie man sie nicht beschreiben kann. Da waren all diese Menschen im Meer, die verzweifelt um Hilfe schrien. Sie hatten diese Augen voller Angst, die wie Feuerbälle aussahen.» Um die «Gamar» trieben Hunderte Köpfe mit Feuerbällen, tauchten auf und gingen wieder unter.

Vito sollte kein Held werden

Er habe sein Boot näher an den Unglücksort gesteuert. Er wusste nicht, dass gerade ein Flüchtlingsschiff mit etwa 550 Menschen aus Eritrea und Somalia untergegangen war. Er wusste nicht, dass dieses Unglück mehr als 360 Menschen nicht überleben würden. Er wusste nicht, dass sich danach Europas Flüchtlingspolitik verändern sollte. Vito hat nur getan, was ihm sein Instinkt sagte: Diese Menschen so schnell wie möglich aus dem Meer auf seinen Kutter zu bringen. «Ich habe sie hochgezogen, aber sie sind mir aus den Händen gerutscht, weil sie voller Treibstoff waren.»

47 Menschen haben Vito und seine Freunde gerettet. Die meisten der Überlebenden sind mittlerweile in Nordeuropa, vor allem in Schweden, einige auch in Deutschland. Kontakt hat er immer noch mit mehreren, sagt Vito. Er zieht sein Telefon aus der Tasche, um Chats mitsamt Fotos zu zeigen. Die Überlebenden nennen ihn «my father».

Doch aus dem Eisdielenbesitzer von Lampedusa wurde kein Held, wie sie nach Unglücken so gerne ausgemacht werden. Denn Vito hatte auf die Uhr geschaut. Gegen 6.20 Uhr hätten sie bei der Küstenwache um Hilfe gebeten. Doch es geschah lange gar nichts, zu lange wie Vito meint. «Sie sind um 7.25 Uhr gekommen, eine Stunde nach unserem Anruf.»

«Zu einer Todsünde beigetragen»

Vito ist der Meinung, wenn die Küstenwache schneller reagiert hätte, hätten viel mehr Menschenleben gerettet werden können. Ausserdem habe ihn die Hafenbehörde nicht wieder aufs Meer gelassen, um noch mehr Menschen zu retten, als er diejenigen auf seinem kleinen Boot an Land gebracht hatte. «Wenn du jemand retten kannst, musst du das tun. Jene Nacht habe ich zu einer Todsünde beigetragen.»

Erst ein Jahr später fand Vito die Kraft, zur Polizei zu gehen und alles zu erzählen, was er erlebt hat. «Ich war geschockt von dem Ereignis, ich habe monatelang nicht schlafen können», sagt er. «Sie haben eine Mutter mit einem Neugeborenen, das noch an der Nabelschnur gehangen ist, gefunden... die Kinder sind aus den Gebärmüttern gerutscht...es war eine unglaubliche Tragödie.»

Doch seine Vorwürfe hatten keine Konsequenzen: Die Retter der Küstenwache wurden als Helden gefeiert. Die damalige Bürgermeisterin Giusi Nicolini wurde zum internationalen Aushängeschild für Menschlichkeit. Lampedusa wurde zum Inbegriff der Flüchtlingskrise. Vito Fiorino kennt bislang kaum einer.

Vito denkt über psychologische Hilfe nach

Aber um Ruhm geht es dem Mann mit den dünnen grauen Haaren auch gar nicht. «Er ist kein politischer Aktivist, der sich seit 40 Jahren für Flüchtlinge eingesetzt hat. Im Gegenteil», sagt Antonio Umberto Riccò. Der Deutsch-Italiener hat Vito für ein Theaterprojekt in Deutschland zur Hauptfigur gemacht hat. «Das Boot ist voll» von der Projektgruppe Lampedusa-Hannover wird in Schulen und auf Bühnen vor allem in Niedersachsen gezeigt. «Vito hat das gemacht, was wohl jeder in so einer Situation gemacht hätte. Man wird nicht politischer dadurch, sondern sensibler für soziale Probleme.»

Heute fährt Vito nicht mehr mit seinem Schiff zum Fischen vor Lampedusa. Er macht nur noch Eis. Heute landen keine voll beladenen Flüchtlingsschiffe mehr in Lampedusa. Die Regierung in Rom rettet keine Migranten in Seenot mehr. Heute gehen Boote vor der libyschen Küste unter, ohne dass man etwas von den Toten erfährt.

Das Rettungsprogramm «Mare Nostrum», das die damalige italienische Regierung nach dem Flüchtlingsunglück von Lampedusa ins Leben gerufen hat, ist heute nur noch eine Erinnerung an längst vergangene Zeiten. Heute landen nur noch vereinzelt Tunesier mit kleinen Booten an den Stränden von Lampedusa. Vito ist heute nicht mehr der selbe wie vor fünf Jahren. Vito denkt heute darüber nach, ob er sich psychologische Hilfe holt.

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