Kritik nach Tragödie in Spanien Hätte der tragische Tod des kleinen Julen vermieden werden können?

dpa

27.1.2019

Julens Tod wirft viele Fragen auf. Arbeiteten die Retter gut genug, waren sie schnell genug? Die Meinungen gehen auseinander. Eines steht fest: Die Tragödie bringt ein grosses Problem ans Licht, das in Spanien nur wenige kannten.

Den kleinen Julen kannten die wenigsten Menschen persönlich. Wie er war, wie er aussah. Dennoch: Das Schicksal des Jungen, der in der Nacht zum Samstag in einem tiefen Loch tot geborgen wurde, hat knapp zwei Wochen lang sein ganzes Heimatland und die halbe Welt in Atem gehalten.

Die Rettungskräfte bekamen Solidaritätsbekundungen und Aufmunterung aus allen Ecken Europas und auch aus so entfernten Ländern wie Argentinien oder Costa Rica. «All unsere Gedanken sind bei diesem kleinen Engel», postete die Französin Virginie im Netz, und Olaf aus dem deutschen Halle an der Saale schrieb: «Auch ganz Deutschland wartet auf gute Nachrichten!!!» Leider waren das Zittern und Beten, das Daumendrücken am Ende umsonst.

Eine Million illegaler Löcher

Aber vielleicht leistet der Unfall einen Beitrag zur Sensibilisierung für ein damit ans Licht gebrachtes Problem: Der tiefe Brunnenschacht, in den das Kind bei einem Ausflug stürzte, war zuvor auf der Suche nach Wasser ohne Genehmigung gegraben worden – in Spanien keine Seltenheit.

Im Gegenteil: Nach Schätzung der Umweltorganisation Greenpeace gibt es im ganzen Land über eine Million solcher illegaler Löcher. Die Zeitung «El Mundo» schrieb, in Wirklichkeit seien es viel mehr. Und «diejenigen Bohrungen, die nicht zum Erfolg führen, werden mehr schlecht als recht zugedeckt». Die angesehene Journalistin und Autorin Cristina López Schlichting sprach am Sonntag in ihrer Radiosendung von einer «schrecklichen Fahrlässigkeit», von der die meisten Spanier nichts gewusst hätten.

Obwohl Spanien mit Stauseen sehr gut ausgestattet ist, leiden viele Regionen unter Wassermangel. Wie Greenpeace beklagt, wird in Landwirtschaft, Industrie und Haushalten, auch bei der Bewässerung von Golfplätzen viel Wasser verschwendet. Viele Grundstücke sind zudem nicht ans Versorgungssystem angeschlossen.

Viele Besitzer von Grundstücken und Fincas beauftragen sogenannte «Poceros», erfahrene «Löchergräber» mit Bohrungen, die oft in wahren Nacht- und Nebelaktionen nur bei Mondbeleuchtung gegraben werden. Im Volksmund heissen diese Schächte «Mondscheinlöcher».

Der «Pocero» Antonio Jesús Perálvarez, der pro Loch 2'000 bis 4'000 Euro kassiert, erzählte «El Mundo»: «Meine Aufgabe ist es, das Loch zu bohren. Um die Abdeckung kümmert sich auch bei legalen Bohrungen der Auftraggeber. Zumal der oft nach einigen Tagen wieder schauen will, ob Wasser herauskommt.» Normal sei es, die Öffnung «mit einem grossen Stein zuzudecken, den ein Kind nicht hochheben kann».

Julens Vater, der arbeitslose Marktverkäufer José, räumte ein, dass das nur 25 Zentimeter breite Unfall-Loch auf dem Grundstück des Freundes einer seiner Kusinen wohl nicht ausreichend gesichert war: «Es war mit einigen Steinen zugedeckt, die sie draufgelegt haben.» Niemand habe diese Steine entfernt. «Aber sie waren wohl nicht ganz fest. Julen ist wohl draufgetreten und durchgerutscht.»

Juan Jose Cortes (M.), Vater eines 2008 ermordeten Mädchens, umarmt Jose Rosello (l) und Vicky Garcia (M.), Eltern des zweijährigen Julens. Foto: Daniel Pérez
Juan Jose Cortes (M.), Vater eines 2008 ermordeten Mädchens, umarmt Jose Rosello (l) und Vicky Garcia (M.), Eltern des zweijährigen Julens. Foto: Daniel Pérez
Source: Daniel Pérez

«Mein Gott, wie ist das möglich?»

Auch wenn die Behörden schon Tage vor der Entdeckung der Leiche Ermittlungen eingeleitet hatten: Die Schuldfrage beschäftigte die Spanier zunächst eher weniger.

Im armen Málaga-Vorort El Palo, wo die Familie wohnt und wo der Kleine immer mit seinem grünen Dreirad unterwegs war, sind die Menschen untröstlich. «Ich wache nachts auf und sage mir: Mein Gott, wie ist das möglich?», sagte eine ältere Frau. Man weiss dort: Die Eltern hatten 2017 einen Sohn verloren, der mit drei Jahren einem Herzversagen erlag.

Während sich die Bergarbeiter durch den harten Felsen bis zu Julen durchkämpften, war das Kind in Cafés und Büros tagelang Gesprächsthema Nummer eins. Dabei wurden oft Zweifel an der Arbeit der Retter und der Behörden laut. «Findet ihr nicht, dass man für die Rettungslöcher zu lange gebraucht hat?», fragte etwa Rentner José in einer Madrider Kneipe in die Runde.

Die an der Suche beteiligten Experten und Politiker sowie die meisten unabhängigen Beobachter mit Fachkenntnissen hatten aber stets alle Zweifel und jede Kritik zurückgewiesen. Schlechte, zu langsame Arbeit? «Nichts wurde dem Zufall überlassen. Eine vergleichbare Aktion hat es noch nie gegeben», sagte zum Beispiel der Präsident des Feuerwehrverbandes von Málaga, Francisco Delgado Bonilla. Man habe «eine sehr anspruchsvolle Ingenieursarbeit, für die man eigentlich Monate braucht, in Tagen geschafft».

Dass Julens Tod aber wohl hätte vermieden werden können, dämmerte den Spaniern am Wochenende mehr und mehr. Der Delegierte der Zentralregierung in Andalusien, Alfonso Gómez de Celis, rief dazu auf, alle illegalen Schächte zuzuschütten. «Solch ein unheilvoller Zwischenfall darf sich bei uns niemals wieder ereignen.»

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