BandengewaltBergdörfer in Mexiko wollen mit bewaffneten Kindern aufrütteln
AP/toko
13.5.2021 - 15:01
Bergdörfer im mexikanischen Bundesstaat Guerrero leiden schwer unter Bandengewalt – von Entführungen bis zum Mord. Aber die Zentralregierung, so klagen sie, tut nichts dagegen. Und so greifen die leidgeprüften Bewohner zu einem provozierenden Mittel, um zur Hilfe aufzurütteln.
AP/toko
13.05.2021, 15:01
13.05.2021, 16:08
AP/toko
Die Kinder im kleinen mexikanischen Ayahualtempa verbringen ihre Tage meistens damit, Ziegen oder Kühe zu versorgen und mit ihren Hunden zu spielen. Aber in den seltenen Fällen, in denen Journalisten in das Bergdorf kommen, werden sie zusammengetrommelt, ziehen Hemden der Gemeindepolizei an, binden sich Halstücher vor das Gesicht. Und dann greifen sie zu ihren Waffen – welche aus Holz für die Kleinsten —, reihen sich auf dem Basketball-Platz des Dorfes auf und marschieren vor den Kameras umher.
Die Bilder haben in Mexiko und sogar darüber hinaus Wellen geschlagen. Und genau das ist der Punkt. Nur einige wenige dieser Kinder patrouillieren tatsächlich mit Waffen, aber solche Vorführungen wie die in Ayahualtempa und in anderen oft vergessenen Gemeinden sind verzweifelte Versuche, die Aufmerksamkeit der Zentralregierung zu gewinnen – und damit vielleicht ihre Hilfe im Kampf gegen organisierte Verbrecher.
Die entlegene Region des Bundesstaates Guerrero ist eine der ärmsten und gewaltreichsten im Land, ein Schlüsselkorridor für Drogenproduktion und -transit, insbesondere von Heroin, das aus Schlafmohn gewonnen wird. Gemeinden der ethnischen Bevölkerungsgruppe der Nahua wie Ayahualtempa sind zwischen kriminellen Banden gefangen, die einander bekriegen. Entführungen, Erpressungen und Mord sind an der Tagesordnung.
Der 12-jährige Valentín Toribio weiss genau, worum es bei den Kinderparaden vor den Kameras geht. Sie marschierten nur mit Waffen, «wenn die Reporter kommen und uns interviewen», sagt der Junge. «Es ist, damit uns der Präsident hört.» Aber Valentín hat auch Schiessen gelernt, sein älterer Bruder hat es ihm beigebracht. Und bei einem jüngsten Aufmarsch vor Journalisten Ende April feuerten die etwa drei Dutzend teilnehmenden Kinder sogar in die Luft, während sie Parolen gegen die Verbrecherbande ausriefen, die das Dorf terrorisiert.
Es sind nur Jungen, die in Ayahulatempa mitmachen, Mädchen sind nicht zugelassen. Die meisten Kinder sind Söhne oder Brüder von Mitgliedern der örtlichen Gemeindepolizei, die – bewaffnet mit alten Schrotflinten – die Dorfeingänge bewacht.
Die Menschen in den betroffenen Orten fordern unter anderem, dass die Regierung mehr Mitglieder der Nationalgarde zu ihrem Schutz entsendet, und Hilfen für Waisen, Witwen und Vertriebene. In den vergangenen zwei Jahren sind in Ayahualtempa und anderen nahegelegenen Dörfern 34 Menschen der Gewalt zum Opfer gefallen.
In Ayahualtempa und der Umgebung bekämpfen sich die Banden «Los Ardillos» (Die Eichhörnchen) und «Los Rojos» (Die Roten), und viele Gemeinden haben ihre eigene Bürgerwehr geschaffen. Aber wegen interner Führungsstreitigkeiten und Bandeninfiltration sind sie oft zersplittert, viele Leute haben Mühe zu identifizieren, wer auf welcher Seite steht. Ergebnis sei, dass Ortsansässige einander feindselig betrachteten, während die Regierung nichts tue, um die Gewalt zu stoppen, so Abel Barrera von der lokalen Menschenrechtsgruppe Tlachinollan.
Die Behörden seien auch tatenlos geblieben, nachdem Bandenmitglieder den Ort Rincón de Chautla angegriffen hätten, schildert Bernardino Sánchez Luna, Mitbegründer einer Koalition von Selbstschutzgruppen. Das habe die Vereinigung 2019 veranlasst, ein Video zu verbreiten, das mit Stöcken bewaffnete Kinder bei Übungen im Militärstil zeigt. Danach habe die Regierung etwas Material zum Häuserbauen für Vertriebene gestiftet, aber die Gewalt sei weitergegangen.
Eine weitere Kinderparade – diesmal mit wirklichen Schusswaffen – gab es im Januar 2020 in einem anderen Dorf, Alcozacan, nachdem dort zehn einheimische Musiker getötet worden waren. 17 Jungen marschierten vor den Kameras, und danach erhielt das Dorf Ausbildungsstipendien vom Staat für die verwaisten Kinder der Opfer und Häuser für die Witwen.
«Schlechte Männer, die uns wehtun wollen»
Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador spricht von einer Ausnutzung von Kindern, und auch internationale Organisationen haben diese Art von «Kinder-Rekrutierung» verurteilt. Aber auch damit haben die Gemeinden zumindest erreicht, dass man über sie spricht. Und López Obradror sagte nach der besonders Aufsehen erregenden Kinderwaffenparade im April mit den Schüssen in die Luft die Entsendung weiterer Nationalgardisten zu.
«Sie sehen, dass die Kinderfrage Aufmerksamkeit bewirkt, und sie denken, wenn das funktioniert, dann werden wir damit fortfahren müssen», sagt Barrera, der Menschenrechtsaktivist, über die Dorfbewohner und ihre verzweifelten Aktionen.
Die Leute in Ayahualtempa wollen auf jeden Fall weitermachen, so lange, bis sie sich sicher fühlen. Denn, so formuliert es Valentin, der Zwölfjährige: «Es gibt eine Menge schlechter Männer, die uns wehtun wollen.»