«Zeitbombe» im Himalaya Indiens sinkende heilige Stadt 

AP/toko

28.2.2023 - 19:26

Durch das Absinken des Bodens werden ganze Häuser in Joshimath unbewohnbar.
Durch das Absinken des Bodens werden ganze Häuser in Joshimath unbewohnbar.
AP Photo/Rajesh Kumar Singh/Keystone

Joshimath im Himalaya werden besondere spirituelle Kräfte nachgesagt. Aber die Stadt wird langsam von der Erde verschlungen. Umweltschützer machen massive Bauprojekte in der Gegend dafür verantwortlich.

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An einer Pilgerstätte hoch im Himalaya löffeln Hindu-Priester Puffreis und Butterfett in ein prasselndes Feuer. Dann schliessen sie ihre Augen und beginnen im Sprechgesang zu beten, dass ihre heilige sinkende Stadt gerettet werde. Monatelang haben die etwa 20'000 Einwohner von Joshimath im indischen Unionsstaat Uttarakhand, verehrt von Hindu- und Sikh-Pilgern, ansehen müssen, wie die Erde langsam den Ort verschlingt. Sie haben um Hilfe gefleht, die niemals kam.

Im vergangenen Januar gelangte ihr Schicksal schliesslich ins  Rampenlicht. Aber zu diesem Zeitpunkt war Joshimath bereits ein Katastrophengebiet. Mehrstöckige Hotels neigten sich zu einer Seite, in Strassen klafften Spalten, und mehr als 860 Häuser waren unbewohnbar, wiesen tiefe Rissen in den Wänden auf. Und anstatt von Rettern kamen Bulldozer.

«Risse verbreitern sich jeden Tag»

Die heilige Stadt war auf Bergen von Schutt und Geröll erbaut worden, zurückgelassen von Erdrutschen und Erdbeben. Wissenschaftler haben seit Langem gewarnt, dass Joshimath nicht dem Ausmass von Bauprojekten standhalten könne, die in jüngster Zeit in der Gegend im Gange sind. «Risse verbreitern sich jeden Tag, und Leute haben Angst...Es ist eine Zeitbombe», sagt Aktivist Atul Sati vom Save Joshimath Committee, einer Organisation, die sich der Rettung der Stadt verschrieben hat.

Experten führen Joshimaths Schicksal teilweise auf Bestrebungen der Regierungspartei von Ministerpräsident Narendra Modi zurück, religiösen Tourismus in Uttarakhand auszuweiten. Neubauten zur Unterbringung von Besuchern, der Bau einer grösseren Fernstrasse und Wasserkraftprojekte wurden vorangetrieben, und das hat – zusätzlich zum Klimawandel – das Absinken des Bodens gefördert.

Joshimath gilt als ein Ort, der über besondere spirituelle Kräfte verfügt, hier soll der Hindu-Guru Adi Shankaracharya im 8. Jahrhundert erleuchtet worden sein, um dann vier Klöster in Indien zu gründen, eines davon in Joshimath. Besucher kommen auf ihrem Weg zum berühmten Sikh-Heiligtum Hemkund Sahib und dem Hindu-Tempel Badrinath durch die Stadt.

Bewohner von Joshimath gehen an einem abgerissenen Hotel vorbei.
Bewohner von Joshimath gehen an einem abgerissenen Hotel vorbei.
AP Photo/Rajesh Kumar Singh/Keystone

Was der lose Mutterboden und die weichen Gesteine der Stadt tragen und stützen können, sei begrenzt – und diese Grenze vielleicht bereits überschritten worden, sagt der Umweltschützer Vimiendu Jha mit Blick auf die vielen Bauprojekte. «Auf kurze Sicht magst du denken, dass es sich um Entwicklung handelt. Aber auf längere Sicht ist es tatsächlich Zerstörung.»

Mindestens 240 Familien mussten bereits an andere Orte umsiedeln – ohne zu wissen, ob sie irgendwann zurückkehren können. Prabha Sati zum Beispiel hat Joshimath im Januar verlassen, als Risse an ihrem Haus auftraten und es anfing, sich zur Seite zu neigen. Kürzlich kam sie zurück, um ein paar Habseligkeiten einzusammeln, bevor der Staat ihr Haus abriss. «Jetzt muss ich alles zurücklassen. Jedes kleine Teil von ihm wird zerstört», sagte sie mit Tränen in den Augen.

Uttarakhand, das eine Reihe heiliger Stätten aufweist, werde in den nächsten zehn Jahren dank verbesserter Infrastruktur einen steilen Anstieg der Touristenzahlen erleben, sagte Modi 2021 voraus. Offiziellen Statistiken zufolge passierten mehr als 500 000 Besucher 2019 die Stadt. Ein grosser Anziehungspunkt ist die Char-Dham-Pilgerfahrt, bei der Menschen schwieriges Terrain und harsche Wetterbedingungen zu bewältigen haben, um vier hoch gelegene Tempel zu erreichen. 2022 kamen 200 der 250 000 Pilger auf dieser Route ums Leben.

Das Char-Dham-Infrastrukturprojekt, das bereits im Gange ist, soll die Reise jetzt leichter machen – via einer breiten Fernstrasse und Eisenbahnlinie quer durch die Berge. Aber genau das, so sagen manche Experten, werde die fragile Lage im Himalaya weiter verschärfen. Um solche breiten Strassen zu schaffen, müssten Felsen gesprengt sowie Bäume und Gebüsch entfernt werden, was Abhänge schwächen und sie anfälliger für Naturkatastrophen machen würde, warnt der langjährige Umweltschützer Ravi Chopra.

Bauarbeiten an dem Projekt nahe Joshimath wurden zwar im Januar gestoppt, aber viele Ortsansässige befürchten, dass es bereits zu spät war. Ein langer Riss quer durch eine der Vorderwände im berühmten Adi-Shankaracharya-Kloster hat sich in den vergangenen Woche besorgniserregend vertieft, wie Vishnu Priyanand, einer der Priester, sagt. «Last Gebetsstätten Gebetsstätten bleiben», bittet er.

100 Wasserkraftprojekte

Es sind nicht nur die Fernstrassen. Ende Januar haben Hunderte Einwohner gegen das Bau des Tapovan-Wasserkraftwerkes nahe Joshimath protestiert «Unsere Stadt befindet sich wegen dieses Projektes am Rand der Zerstörung», sagt Atul Sati, der Aktivist vom Save Joshimath Committee. Nach Angaben Einheimischer führen Sprengungen zum Bau eines zwölf Kilometer langen Tunnels für das Kraftwerk zum Abbröckeln ihrer Häuser. Die Arbeiten wurden ausgesetzt, aber Vertreter der für das Projekt zuständigen National Thermal Power Corporation bestreiten, dass es einen Zusammenhang mit dem Absinken der Stadt gebe. Derzeit führen verschiedene Regierungsbehörden Studien durch, um die Ursache der Schäden herauszufinden, wie ein Bezirksbeamter sagt.

Insgesamt gibt es In Uttarakhand um die 100 Wasserkraftprojekte in verschiedenen Stadien, im Rahmen von Bestrebungen der Regierung, die Abhängigkeit von Kohle zu verringern. Die massiven Bauarbeiten könnten ganze Dörfer ausradieren, wie Experten warnen – und es die Einwohner eines Ortes nahe Joshimath bereits erfahren haben.

Haat am Fluss Alaknanda war einst ein geheiligter Flecken, an dem Guru Adi Shankaracharya im 8. Jahrhundert einen weiteren Tempel gegründet haben soll. Heute ist das Dorf eine Müllhalde und Lagerort für Baumaterialien, nachdem es 2009 von einem Energieunternehmen für ein Wasserkraftprojekt gekauft worden war. Nur noch der Laxmi-Narayan-Tempel steht, und alle Einwohner wurden woanders angesiedelt. Ein Hausmeister, der sich weigerte, lebt in einem improvisierten Raum neben dem Gebäude. Er fegt das Gelände, reinigt die Götterbildnisse und bereitet Tee für die wenigen Besucher, die hier noch vorbeikommen.