Spät gewarntExpertin wirft deutschen Behörden «monumentales» System-Versagen vor
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19.7.2021
Eine britische Wissenschaftlerin hat den deutschen Behörden schwere Vorwürfe im Zuge der Flutkatastrophe gemacht. Auch die Politik diskutiert bereits: Mehrere Spitzenpolitiker fordern Änderungen auf Bundesebene.
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19.07.2021, 16:29
19.07.2021, 16:42
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Mit dem Rückgang der akuten Gefahr in den Hochwassergebieten in Deutschland gewinnt die Debatte über Versäumnisse beim Bevölkerungsschutz an Schärfe. Eine britische Wissenschaftlerin warf den deutschen Behörden «monumentales» System-Versagen bei der Flutkatastrophe vor.
Klare Hinweise, die im Rahmen des europäischen Frühwarnsystems EFAS bereits vier Tage vor den ersten Überschwemmungen herausgegeben wurden, seien offenbar nicht bei der Bevölkerung angekommen, sagte Hannah Cloke von der Universität Reading der «Sunday Times».
Die Forscherin war am Aufbau von EFAS (European Flood Awareness System) beteiligt, das nach den verheerenden Überschwemmungen an Elbe und Donau im Jahr 2002 gegründet wurde. Mithilfe meteorologischer und hydrologischer Daten sowie anhand von Computer-Modellen werden dabei Überschwemmungen und Sturzfluten vorhergesagt. Ziel ist es, Zeit zu gewinnen, um die Bevölkerung besser zu schützen
Dem Klimawandeldienst Copernicus zufolge wurde bereits am 10. Juli eine erste Warnung an die relevanten nationalen Behörden gegeben. Bis zum 14. Juli wurden demnach mehr als 25 weitere Warnungen mit fortlaufend aktualisierten Vorhersagen für spezifische Regionen des Rheins und der Maas herausgegeben.
Es hätte «sicherlich Zeit» für Warnungen geben müssen
Obwohl die genaue Vorhersage einzelner Überschwemmungsgebiete schwierig gewesen sei, hätte es «sicherlich Zeit» geben müssen, um grössere Gemeinden mit Warnungen und Evakuierungen vorzubereiten, sagte die Forscherin. Das Ergebnis zeige, dass viel schiefgegangen sei.
«Die Menschen hätten Warnungen erhalten sollen, sie hätten die Warnungen verstehen sollen», kritisierte Cloke und fügte hinzu: «Es hat keinen Sinn, mit gigantischen Computer-Modellen vorherzusagen, was geschehen wird, wenn die Leute nicht wissen, wie sie sich bei einer Überschwemmung verhalten müssen.»
Auch in Deutschland selbst nimmt die politische Debatte über Folgen für Katastrophen- und Klimaschutz Fahrt auf, während sich die Lage in den Hochwassergebieten zuletzt beruhigte: Mehrere Spitzenpolitiker forderten am Montag Änderungen vor allem auf Bundesebene.
Grünen-Chefin fordert Klimaanpassungsmassnahmen
Die Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, sprach sich dafür aus, dass der Bund eine grössere koordinierende Rolle bei überregionalen Katastrophen wie Fluten oder Waldbränden bekommt. «Der zweite Punkt ist, dass wir Klimaanpassungsmassnahmen brauchen», sagte sie im ARD-«Morgenmagazin». CSU-Chef Markus Söder betonte in der Sendung: «Wir brauchen schon einen Klima-Ruck in Deutschland.»
Im «Spiegel» sagte Baerbock: «Hilfe funktioniert nur, wenn alles ineinander greift. Dafür braucht es eine Instanz, die alle Kräfte bündelt, die schnellstmöglich aus ganz Deutschland oder EU-Nachbarstaaten Hubschrauber oder Spezialgeräte zusammenzieht.»
Zentralstellenfunktion für Bundesamt
Verschiedene Ebenen und Akteure müssten schneller koordiniert werden, gerade wenn Ereignisse mehrere Bundesländer betreffen oder nicht mehr durch die regionalen Einsatzkräfte bewältigt werden könnten. «Dazu muss das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe mit einer Zentralstellenfunktion ausgestattet werden, wie wir sie in der Polizeiarbeit vom Bundeskriminalamt kennen», so Baerbock.
In der ARD sagte die Grünen-Chefin, auch Warnketten müssten verbessert werden. Städte müssten umgebaut werden, Flüssen müsse mehr Raum gegeben werden. «Das ist kein Entweder-oder zwischen Klimavorsorge, Klimaanpassung und Klimaschutz, sondern ein Dreiklang, der eigentlich in den ganzen Klimaschutzverträgen weltweit auch genauso beschlossen ist.» Von der CDU forderte sie im «Spiegel», Widerstand gegen ein striktes Bauverbot in Hochwasserrisikogebieten aufzugeben.
Liberale sehen schwere Versäumnisse
FDP-Bundestagsfraktionsvize Michael Theurer sieht derweil schwere Versäumnisse beim Bevölkerungsschutz. «Die rechtzeitigen Warnungen der Meteorologen sind weder von den Behörden noch vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk hinreichend an die Bürgerinnen und Bürger kommuniziert worden», sagte er der Deutschen Presse-Agentur. «Es bietet sich das Bild eines erheblichen System-Versagens, für das der Bundesinnenminister Seehofer unmittelbar die persönliche Verantwortung trägt.» Die FDP-Fraktion beantragte eine kurzfristige Sondersitzung des Innenausschusses. Seehofer müsse darlegen, was die Bundesregierung wann genau wusste – und was unternommen wurde, um den Katastrophenschutz sicherzustellen.
Auch Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) forderte am Sonntag im «Bild live»-Politiktalk «Die richtigen Fragen» Aufklärung, ob der Katastrophenschutz ausreichend funktioniert habe. Es gehe nicht um Schuldzuweisungen.
Linken-Parteivorsitzende Susanne Hennig-Wellsow brachte sogar eine Rücktrittsforderung ins Spiel. «Seehofer trägt die politische Verantwortung für das desaströse Versagen der Bundesregierung», sagte sie einer Mitteilung zufolge.
«Wir helfen jetzt»
Der Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Armin Schuster, sagte im Deutschlandfunk, derzeit sei man in der Phase «Retten, Bergen, Obdachbieten et cetera. Ich habe meinen Mitarbeitern sogar quasi untersagt, Manöverkritik zu machen. Wir helfen jetzt».
Aus Schusters Sicht braucht es einen Warnmittel-Mix aus verschiedenen Methoden, rein digitale Warnungen seien nicht der richtige Weg. «Und deswegen wollen wir auch die gute alte Sirene zurückhaben.» Mit einem Förderprogramm in Höhe von 90 Millionen Euro sollten gemeinsam mit den Bundesländern «an den richtigen Stellen» wieder Sirenen installiert werden. Das Geld werde aber nicht reichen, und die Umsetzung werde Zeit in Anspruch nehmen.
Innenminister Seehofer, der nach seinem Besuch an der Steinbachtalsperre weiter nach Bad Neuenahr-Ahrweiler in Rheinland-Pfalz reiste, sagte, der Katastrophenschutz in Deutschland sei gut aufgestellt. Bund, Länder und Kommunen müssten sich aber auch gemeinsam Gedanken machen, welche Lehren aus dem Krisenmanagement zu ziehen seien. Es wäre falsch «in der Arroganz (zu) verharren», dass man nichts mehr verbessern könne.
Lichtblicke in Katastrophen-Regionen
Aus den Katastrophengebieten im Westen Deutschlands gab es am Montag auch Lichtblicke. Ein Brechen der in Euskirchen bei Köln gelegenen Steinbachtalsperre habe verhindert werden können, sagte Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident und Union-Kanzlerkandidat Armin Laschet, der dort gemeinsam mit Seehofer zu Besuch war.
Die Talsperre habe einen «unkritischen Wasserstand erreicht», teilte der Rhein-Sieg-Kreis mit. Damit bestehe akut keine Gefahr mehr, dass die Staumauer brechen könnte. Somit könnten die Evakuierungsmassnahmen für Teile der Orte Swisttal und Rheinbach aufgehoben werden.
Die ebenfalls in der Region gelegene Stadt Erftstadt informierte, dass die mehr als 100 auf einer Bundesstrasse vom Hochwasser eingeschlossenen Fahrzeuge bis auf zwei Lastwagen geborgen seien. Dabei wurden keine Toten entdeckt.
Auch einige durch Unwetterfolgen blockierte Bahnstrecken sind wieder befahrbar, etwa von Dresden (Sachsen) nach Prag (Tschechien). Im Laufe der Woche soll zudem die Schifffahrt auf dem Rhein bei Speyer (Rheinland-Pfalz) und Karlsruhe (Baden-Württemberg) wieder freigegeben werden. Entspannung versprechen die Wetteraussichten für die kommenden Tage: Es soll weitgehend trocken bleiben.