Flamingo-Sterben in der TürkeiWie ein Salzsee verschwindet
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31.10.2021 - 00:00
Weil das Wasser fehlt, sind am See Tuz in der Türkei Tausende Vögel verendet. Experten machen den Klimawandel verantwortlich – und die staatliche Agrarpolitik.
DPA, AP/toko
31.10.2021, 00:00
31.10.2021, 02:00
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Seit Jahrhunderten zieht der See Tuz in der Türkei grosse Kolonien von Flamingos an. Die Vögel brüten bei warmen Wetter und ernähren sich von Algen in dem seichten Gewässer. In diesem Sommer aber bot sich statt der üblichen prächtigen Bilder von Flamingos im Sonnenuntergang ein beklemmender Anblick: Das rissige, ausgetrocknete Seebett war mit Kadavern von Küken und Elternvögeln bedeckt.
Der 1665 Quadratkilometer grosse See, der zweitgrösste der Türkei, ist in diesem Jahr komplett zurückgegangen. Nach Angaben von Experten ist der Tuz, Türkisch für «Salzsee», einer durch den Klimawandel ausgelösten Trockenheit zum Opfer gefallen. Die Dürre hat die Region im Zentrum des Landes hart getroffen. Als weiteren Grund sehen die Fachleute eine jahrzehntelange zerstörerische Agrarpolitik, die die Grundwasservorräte erschöpft hat.
«Sie sind alle verendet»
«Es gab etwa 5000 junge Flamingos», sagt der Naturfotograf Fahri Tunc, der seit Jahren die Vogelvielfalt am Tuz in Bildern festhält. «Sie sind alle verendet, weil es kein Wasser gab. Es war ein unglaublich schlimmer Anblick, den ich nie vergessen werden. Ich hoffe, eine solche Szene nie wieder erleben zu müssen», sagt Tunc, der auch den regionalen Zweig der türkischen Umweltschutzorganisation Doga Dernegi leitet.
Mehrere weitere Seen in der Türkei sind auf ähnliche Weise ausgetrocknet oder haben sich auf alarmierend niedrige Stände zurückgezogen. Gründe dafür sind auch geringe Niederschläge und nicht-nachhaltige Bewässerungstechniken. Klimaexperten warnen davor, dass das gesamte Mittelmeerbecken, das die Türkei einschliesst, von schwerer Trockenheit und Wüstenbildung bedroht ist.
Am grössten türkischen See Van im Osten des Landes konnten Fernsehberichten zufolge in der vergangenen Woche Fischerboote nicht mehr ans Ufer zurückgelangen, nachdem der Wasserstand auf ein ungewöhnlich geringes Niveau abgesunken war. Die Situation sei im gesamten Land schlecht, erklärt Levent Kurnaz, Wissenschaftler am Zentrum für Klimawandel und Politische Studien der Bogazici-Universität. Bei steigenden Temperaturen lasse zugleich der Regen nach.
Laut einer auf Satellitenbildern basierenden Studie der türkischen Ege-Universität begann der Wasserstand des Tuz bereits im Jahr 2000 zu fallen, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete. Infolge der Erwärmung, zunehmender Verdunstung und zu geringer Niederschläge trocknete das Gewässer in diesem Jahr dann ganz aus.
Die Forscher stellten auch einen starken Rückgang des Grundwassers rund um den See fest, der sich über die türkischen Provinzen Ankara, Konya und Aksaray erstreckt. Das Konya-Becken in Zentralanatolien, in dem der Tuz liegt, war einst als Kornkammer der Türkei bekannt. Landwirte in der Region bauen profitable, aber wasserintensive Kulturen wie Mais, Zuckerrüben und Luzerne an, die laut Tunc viel Grundwasser verbraucht haben. Bauern hätten Tausende nicht genehmigte Brunnen gegraben, während Zuläufe des Sees ausgetrocknet oder umgeleitet worden seien.
Senklöcher durch übermässige Nutzung des Grundwassers
Umweltexperten machen die staatliche Agrarpolitik für einen Grossteil des Niedergangs verantwortlich. «Wenn man den Bauern nicht genug bezahlt, werden sie wasserintensive Pflanzen anbauen und damit Geld verdienen», sagt Kurnaz. «Und wenn Politiker ihnen das verbieten, bekommen sie bei der nächsten Wahl nicht mehr die Stimmen der Bauern.»
Der übermässige Nutzung von Grundwasser führt auch dazu, dass sich in der Region vermehrt Senklöcher bilden. Im Bezirk Karapinar in Konya sahen AP-Journalisten kürzlich Dutzende solcher sogenannten Dolinen, eine davon neben einem frisch abgeernteten Luzernen-Feld.
Fotograf Tunc, der aus Aksaray stammt, ist betrübt über die Vorstellung, die Flamingos mit seinem sieben Monate alten Sohn nicht mehr so bewundern zu können, wie er es mit seinem 21-jährigen jungen getan hat. Der 46-Jährige hofft aber weiter, dass sich der Tuz wieder erholen wird – sofern die Regierung der wasserintensiven Landwirtschaft einen Riegel vorschiebt.
120'000 illegale Brunnen
Klimawissenschaftler Kurnaz ist weniger optimistisch. «Sie sagen den Leuten immer wieder, dass sie kein Grundwasser für diese Landwirtschaft nutzen sollen, und die Leute hören nicht zu», sagt er. «In der Region gibt es etwa 120'000 illegale Brunnen, und jeder pumpt Wasser, als wenn es unerschöpflich wäre.» Die Grundwasservorräte in Zentralanatolien wieder aufzufüllen könne Tausende von Jahren dauern.
Die Trockenheit und das Flamingo-Sterben am Tuz sind indes nur zwei von mehreren Umweltkatastrophen in der Türkei in diesem Sommer. Im Juli vernichteten Waldbrände an der Südküste grosse Gebiete, acht Menschen kamen ums Leben, und Tausende wurde in die Flucht getrieben. Überschwemmungen an der Schwarzmeerküste im Norden kosteten 82 Menschen das Leben.
In der Ortschaft Eskil nahe dem Ufer des Tuz, prüft der Bauer Cengiz Erkol das Bewässerungssystem an seinem Acker, auf dem er Tierfutter anbaut. «Das Wasser fliesst nicht mehr so stark und reichlich wie früher», sagt der 54-Jährige. «Ich habe vier Kinder. Die Zukunft sieht nicht gut aus. Jedes Jahr ist schlechter als das vorherige.»