Angesagtes Reiseland Georgiens vergessene Kriegsflüchtlinge

dpa

10.8.2018

Georgien entwickelt sich zu einem angesagten Reiseland. Doch unweit der hippen Hauptstadt Tiflis reiht sich ein Flüchtlingsdorf ans nächste. Die Bewohner denken seit Jahren sehnsüchtig an ihre alte Heimat hinter einer nahen Grenze, die eigentlich gar keine ist.

Liebevoll streifen die von Kratzern gezeichneten Hände über das kleine Bett. Isolda Schitischwili streicht die braune Decke glatt. Keine Kissen, kein Schnickschnack. Sie sei noch nie eitel gewesen, sagt die Georgierin. Die Frau, die in weissen Socken und Plastiklatschen herumläuft, versucht ihr Heim wohnlich zu machen, ordentlich - auch wenn das Flüchtlingsdorf Freseti zwischen Georgien und Südossetien gar nicht ihr Zuhause ist. Seit zehn Jahren lebt sie hier. Seit zehn Jahren wartet sie. Und denkt an die nur 20 Kilometer entfernte Heimat.

Die Menschen in Freseti lebten auch schon Tür an Tür, als ihr Dorf unter einem anderen Namen etwas weiter nördlich lag, in Südossetien. Sie alle waren wegen des Krieges zwischen Russland und Georgien im August 2008 geflohen. Die Dorfgemeinde wurde von der georgischen Regierung hierher verpflanzt, wie die 58-Jährige es nennt. «Alles, was wir hier tun können, ist sitzen, warten, hoffen. Jeder weiss, dass wir wohl nie zurückkehren können. Aber die Hoffnung ist das einzige, was wir haben.»

Isolda Schitischwili steht mit ihrer Enkelin Salome vor einem Laden. In der Nähe der hippen Hauptstadt Tiflis träumen die Menschen in einem vergessenen Flüchtlingsdorf von ihrer alten Heimat. 
Isolda Schitischwili steht mit ihrer Enkelin Salome vor einem Laden. In der Nähe der hippen Hauptstadt Tiflis träumen die Menschen in einem vergessenen Flüchtlingsdorf von ihrer alten Heimat. 
Claudia Thaler/-/dpa

Ethnische Georgier wurden damals aus Südossetien und Abchasien an der russischen Grenze vertrieben. Die beiden Regionen spalteten sich von Tiflis ab. Häuser wurden niedergebrannt, Menschen getötet, Landstriche verwüstet. Isolda blickt auf ein Foto an die Wand über der hölzernen Kommode. Es zeigt einen ernst blickenden Mann mit dunklem Haar, ihren Mann Gaios.

«Wegen der Angst, des Stresses, sind wir alle krank», sagt die Frau. Seit sie vor zehn Jahren ihr Haus verlassen hat, leidet sie an Panikattacken. «Ich denke an die Heimat und bekomme keine Luft. Ich sterbe ganz langsam.» Um sich abzulenken, verbringt sie ihre Zeit im Garten, gräbt um, jätet Unkraut, bis die Hände innen ganz zerkratzt sind und bluten. Auch ihr Mann Gaios sei mit der Flucht, dem jahrelangen Bangen, nicht fertig geworden. Er sei auch deswegen gestorben, glaubt sie, an Magenkrebs.

GEORGIEN, DAS URLAUBSLAND

Zehntausende leben als Flüchtlinge in Georgien, einem kleinen Staat am östlichen Rand Europas im Kaukasus. Einem Land, das gerade viele Touristen als reizvolles Reiseziel und Weinparadies für sich entdecken - auch aus Deutschland.

In der Hauptstadt Tiflis zeigen Designer ihren Hipsterschmuck in Auslagen, knallrote Touristenbusse fahren an innovativen Glasbauten in der Innenstadt entlang. Gleichzeitig wehen blaue EU-Flaggen mit Sternchen an Eingangstüren von Geschäften, Hotels und Regierungsgebäuden.

Das von Reiseführern als Touristenziel des Jahres beworbene Land ist tief gespalten - wirtschaftlich und politisch. Die Regierungen in den verarmten, abtrünnigen Provinzen Südossetien und Abchasien im Norden treiben seit Jahrzehnten all diejenigen Bewohner in die Flucht, die gegen die Unabhängigkeit sind.

Deshalb hat es sich Georgien zur Aufgabe gemacht, einmal Mitglied in der Europäischen Union und der westlichen Verteidigungsallianz Nato zu werden. Doch es gibt eine Hürde, die auch für die EU-Oberen in Brüssel bislang unüberwindbar scheint: Solange der Konflikt in der Ex-Sowjetrepublik am Schwarzen Meer nicht gelöst ist, führt wohl selbst auf lange Sicht kein Weg zur Mitgliedschaft. Auch die Nato will sich den explosiven Streit nicht ins Haus holen.

Blick auf die sanierte Altstadt von Tiflis mit dem Fluss Kura. 
Blick auf die sanierte Altstadt von Tiflis mit dem Fluss Kura. 
Jan Woitas/dpa-Zentralbild/dpa

Isolda und ihre geflüchteten Nachbarn wissen nichts von diesen politischen Absichten. Die Frau blickt aus dem Fenster. Sie sieht Reihen von Häusern, die sich kaum unterscheiden: weisses Dach, schmale Veranda, Gartentor. 300 Mal hintereinander findet man dieses Bild auf dem Hügel, zu dem nur eine kleine staubige Landstrasse führt. Wegweiser sind nicht zu entdecken.

Isolda wohnt in Zeile drei, sie hat eine kleine Küche und zwei Zimmer. Das Bad - «ein Glücksfall», sagt sie - liegt in einem Betonanbau im Garten. Dort fliesst das Wasser wenige Minuten am Tag, um 7 Uhr früh und abends gegen 19 Uhr. Bis vor kurzem gab es nur ein Plumpsklo im Garten. Hinter dem Haus grast eine Kuh, zehn Hühner gackern laut.

Vom Staat bekommen die Flüchtlingsfamilien in Freseti eine kleine finanzielle Hilfe, die kaum zum Leben reicht. Im Monat müssen sie mit 45 Lari (rund 16 Euro) pro Person auskommen. Sieben von zehn Bewohnern haben keine Arbeit. «Die in Tiflis lachen uns doch ins Gesicht. Wer kann so schon überleben?», fragt Isolda, die von Verwandten noch Geld zugesteckt bekommt. Die Regierung hat nur wenig Finanzmittel zu verteilen. 100 Millionen Lari sind für die Flüchtlingsfragen vorgesehen. Die Grundstücke und Häuser erhalten die Menschen als Besitz - in einer verlassenen Region, wo Land kaum verkäuflich ist.

EINE TIEFE WUNDE

Die Hände zittern, die Stimme versagt, wenn Isolda an ihr anderes Haus in Südossetien denkt. «Wir haben nie geglaubt, dass die Panzer zu unserem kleinen Dörfchen oben am Berg kommen», sagt sie und wischt sich mit der Handfläche Tränen aus dem Gesicht. «Plötzlich standen die da.» Das Drama begann in der Nacht zum 8. August 2008, als die Welt gebannt auf die Eröffnung der Olympischen Spiele in Peking wartete. Isolda wachte damals mit Angstschweiss auf.

Hunderte Menschen starben bei dem Fünf-Tage-Krieg, der eine humanitäre Katastrophe auslöste. Nach zahlreichen Provokationen hatte sich der damalige Präsident Michail Saakaschwili zu einem Angriff auf das abtrünnige Südossetien und Abchasien hinreissen lassen. Russlands Regierungschef Wladimir Putin kündigte noch von Peking aus einen Vergeltungsschlag an.

Mit der Begründung, Moskau müsse Südossetien schützen, setzte die Grossmacht Panzer, Bomber und Bataillone in Bewegung, die Putin auch in das georgische Kernland hinein schickte. Erst die Vermittlung durch die EU - damals unter Führung von Frankreichs Staatschef Nicolas Sarkozy als Ratspräsident - stoppte das Blutvergiessen.

Die Südkaukasusrepublik Georgien musste danach die Hoffnung auf Rückkehr eines Fünftels ihres Gebietes begraben. Abchasien und Südossetien erklärten sich für unabhängig, was nur von Russland und wenigen Staaten akzeptiert wird. Russische Soldaten kontrollieren seitdem die Regionen, Geldspritzen aus Moskau halten die isolierten Gebiete am Leben.

Isolda Schitischwili sitzt in ihrem Haus in Freseti. 
Isolda Schitischwili sitzt in ihrem Haus in Freseti. 
Claudia Thaler/-/dpa

EIN FESTGEFAHRENER KONFLIKT

Beide Seiten sind in ihren Positionen unverändert: Russische Politiker klagen über die angebliche Sturheit der Georgier, nicht für Gespräche zugänglich zu sein. «Wer hindert denn die georgische Führung, einen Dialog mit Südossetien und Abchasien zu suchen? Niemand!», sagte der Ex-General und russische Aussenpolitiker Wladimir Schamanow. Tiflis hält dagegen. «Wenn es zu Gesprächen kommt, wird das torpediert und behindert», sagt die georgische Staatsministerin für Versöhnung und Gleichstellung, Ketewan Zichelaschwili.

Für Isolda begann damals erst nach dem Waffenstillstand das persönliche Martyrium. «Wir mussten alles zurücklassen. Das Haus hat mein Mann mit seinen eigenen Händen gebaut. Das kann man nicht ersetzen und wiederaufbauen», sagt die Frau. Ihr Mann und sie seien mit längerem zeitlichen Abstand ins Flüchtlingsdorf Freseti geflohen.

Damals kamen innerhalb weniger Wochen schätzungsweise 130 000 Menschen in die Nähe der georgischen Hauptstadt. In wenigen Tagen stampfte die Regierung in Tiflis mit ausländischer Hilfe künstliche Orte wie Freseti aus dem Boden. Mitten im Nichts, nur die Berge des Grossen Kaukasus bieten in der Ferne Orientierung.

Besonders leiden die Menschen darunter, dass es hier kaum Arbeit gibt. Warten wird zum Tagesinhalt. Obwohl das Leben in der alten Heimat wirtschaftlich oft schlechter sei, wollten mehr als vier Fünftel der Menschen eigentlich dorthin zurück, sagt Staatsministerin Zichelaschwili. «Wir machen uns da auch keine Illusionen, dass das ein einfacher Prozess ist oder innerhalb weniger Jahre passieren wird», sagt die Politikerin. «Wir halten daran aber fest.»

DIE EU HAT BEOBACHTER VOR ORT

Heute reihen sich Dutzende Flüchtlingsdörfer zwischen Tiflis und der Stadt Gori im Norden entlang einer Linie, die keinen richtigen Namen hat, aber gefährlich werden kann. Staatsgrenze? Okkupationslinie? Die EU bezeichnet sie in umständlicher Amtssprache als administrative Grenzlinie. Diese zu übertreten, um in der Heimat nach dem Rechten zu sehen, ist für die Bewohner beinahe unmöglich. Eine Erlaubnis stellen die Russen nur gegen 400 Lari (rund 140 Euro) aus, eine zu hohe Summe für die meisten Flüchtlinge.

Weil kaum jemand der Leute genau weiss, wo diese Linie verläuft, und weil Grenzschilder immer mal wieder einfach versetzt werden, kommt es regelmässig zu Zwischenfällen: Bauern pflügen versehentlich in Südossetien, im Glauben, ihr Feld im georgisch kontrollierten Teil zu bestellen, erläutert ein Polizist und zeigt auf eine grüne Wiese am Hügel. «Hier sieht nichts nach Grenze aus - und zack, werden die Bauern festgenommen», sagt er und klatscht beide Hände in der Luft zusammen. Weil er und seine Kollegen keinen Einfluss auf die Behörden im Norden haben, könnten sie den Bewohnern nicht helfen.

Sein Ausweg: ein Anruf bei der EU-Mission. Denn Brüssel hat unbewaffnete Kräfte entsandt, die in solchen Fällen vermitteln. Täglich patrouillieren die rund 200 Beobachter durch das gebirgige Gebiet, darunter 11 Deutsche und 7 Österreicher. «Wir haben eine Hotline - Georgien hat keine diplomatischen Beziehungen zu Russland und den abtrünnigen Gebieten. Wenn etwas passiert, kommen wir ins Spiel», sagt Missionsleiter Erik Høeg.

Im vergangenen Jahr wurde die Mission mehr als 1600 Mal von den georgischen Behörden alarmiert, Tendenz steigend. Doch den Beobachtern sind in vielen Fällen die Hände gebunden. Der Zugang nach Abchasien und Südossetien wird ihnen verweigert, obwohl dies im Friedensplan zugesichert wurde. Høeg sieht dennoch Erfolge. «Ich bin der festen Überzeugung, dass sich die Bewohner aufgrund unserer Präsenz sicherer fühlen.»

DER FRUST IST GROSS

Einige Bewohner äussern sich skeptischer. «Manchmal kommen die EU-Leute ins Dorf mit ihren blauen Autos, mit grossen Antennen auf dem Dach», sagt Spartak Kazaschwili, der ein Nachbar von Isolda ist. «Ich habe keine Ahnung, was die hier machen. Das Ganze schaut irgendwie lustig aus», sagt der Mann. «Mein Leben ändert sich dadurch aber nicht.» Er starrt auf den Fernseher, dort läuft eine georgische Kochsendung ohne Ton.

Spartak spricht leise. Er ist 44 Jahre alt. Er wirkt älter. Drüben, in der Provinz Achalgori, sei er Bauer gewesen. Er habe mit seiner Familie ein ruhiges, aber gutes Leben verbracht. Heute sei davon nichts mehr zu spüren. «Die Ernte hier kann man vergessen. Das Wasser reicht nicht», sagt er. Die Frauen haben auf der Veranda auf einer Decke Zwiebeln ausgebreitet, viele sind vertrocknet. Zum Verkauf reiche es nicht, um über den Winter zu kommen, vielleicht.

Er wolle den Kindern irgendeine Perspektive bieten, er wisse nur nicht wie. Spartak harrt in Freseti aus. Pläne wegzugehen habe er wegen Geldmangels schon lange verworfen. Inzwischen arbeitet er in einem Steinbruch zwei Autostunden entfernt. «Die Arbeit ist hart, aber stabil. Das ist das wichtigste», sagt er.

Isoldas Nachbar wohnt auf wenigen Quadratmetern mit zwei Brüdern, den Schwägerinnen, sechs Kindern und seiner Mutter Olia. «Von Privatsphäre kann hier keine Rede sein», findet die 68-Jährige. Sie schwelgt gerne in Erinnerungen an Südossetien, denkt an die Apfelbäume vor dem Haus. Sie packt ein Bündel Fotos aus, auf denen Sohn Spartak als junger Mann vor dem Elternhaus steht. Der Sohn schaut wieder zu Fernseher. «Was sollen diese Sentimentalitäten? Ich möchte wissen: Wo finden wir Arbeit, wie bringen wir die Familie durch?» Fragen, auf die Spartak keine Antwort weiss.

Manchmal spaziert er mit seiner Familie dann doch auf den nächsten Berg, mit einem besonderen Ziel: Vom Gipfel können sie ihre Heimat sehen. Denn Freseti fühlt sich nicht nach Zuhause an - auch nach zehn Jahren nicht.

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