«Gewaltunterbrecher» «Gewaltunterbrecher»: Ex-Gangster setzen sich für ein friedliches New York ein

AP

10.8.2018

Abraham Camara mit einem "Save Our Streets (S.O.S.)"-Stirnband.
Abraham Camara mit einem "Save Our Streets (S.O.S.)"-Stirnband.
Keystone

Bei Gewalttaten in New Yorker Problemvierteln bekommt die Polizei Unterstützung von Nachbarschaftswachen. Häufig waren die Freiwilligen früher selbst in Gangs aktiv und haben Haftstrafen abgesessen. Sie sprechen die Sprache der Strasse.

Mit einem Megafon in der Hand tritt David Gaskin auf die Strasse. Autos weichen aus. Das frühere Gangmitglied hebt das Sprachrohr an den Mund und predigt die Botschaft, die auf seinem T-Shirt, seiner orangefarbenen Baseball-Kappe, den Gummi-Armbändern an seinem Handgelenk und seinem Trainingsanzug prangt: «Hört auf zu schiessen. Fangt an zu leben.»

«Seid ihr bereit, euch gegen Waffengewalt zu wehren, dann ruft "Ich bin bereit!"», fordert Gaskin seine Zuhörer im New Yorker Stadtteil Brooklyn auf. «Ich bin bereit», schallt es zurück. Der Aktivist hat das Viertel Bedford-Stuyvesant als Standort ausgewählt, weil hier drei Tage zuvor ein 27-jähriger Mann erschossen wurde. Gaskin gehört der Initiative Save Our Streets (S.O.S.) an, einer von immer mehr steuerfinanzierten Gruppen in der grössten Stadt der USA, die sich gegen Schusswaffengewalt einsetzen.

«Gewaltunterbrecher»

Ihre als «Gewaltunterbrecher» bezeichneten Mitglieder waren früher selbst in kriminellen Banden aktiv. Angesichts steigender Mordfälle an jungen Leuten machen die Aktivisten in diesem Sommer Überstunden. Sie wollen die Bewohner wachrütteln, Gewaltverbrechen nicht als etwas Normales zu akzeptieren. Sie kontrollieren besonders gefährliche Gegenden und gehen manchmal sogar persönlich dazwischen, um teils bewaffnete Kämpfe zu schlichten.

Violence Interrupters, David Gaskin
Violence Interrupters, David Gaskin

«Wir sind die Fusstruppe», sagt Rudy Suggs, ein ehemaliger Drogendealer, der heute die Gewaltschlichter von S.O.S. anleitet. «Wir sind diejenigen, die hier spät nachts nach gefährdeten Jugendlichen Ausschau halten, die Drogen verkaufen, zocken und Dinge tun, die sie nicht tun sollten.»

Die Mitglieder dieser Nachbarschaftswachen stammen zumeist selbst aus dem jeweiligen Viertel. Viele der ehemaligen Gangmitglieder haben Haftstrafen verbüsst. Aktuell sind 18 solcher Gruppen in Gegenden mit hoher Kriminalität im gesamten Stadtgebiet aktiv. Vier weitere sind in Planung. Die Kampagne ist Teil eines Plans von Bürgermeister Bill de Blasio, um die historisch niedrigen Raten bei Morden und Schusswaffengewalt zu halten. Ziel ist zugleich eine Verbesserung der Beziehung zwischen der Polizei und den Minderheiten in der Stadt. In den US-Metropolen Chicago, Baltimore und Philadelphia gibt es ähnliche Gruppen.

Sobald Beamte einschreiten, mischen sich Freiwillige nicht mehr ein

«Die Polizei wirkt schlechtem Benehmen immer weniger entgegen, während diese Organisationen immer mehr zu gutem Benehmen anspornen», sagt Elizabeth Glazer, die das Büro für Strafjustiz des Bürgermeisters leitet. Das Büro verfügt über ein Jahresbudget von 34 Millionen Dollar, um das S.O.S.-Programm und andere Projekte zu finanzieren. In konkreten Fällen stimmen sich die freiwilligen Nachbarschaftswächter Bezirk für Bezirk mit der Polizei ab. Beide Seiten achten aber darauf, sich nicht gegenseitig auf die Füsse zu treten. Manchmal lassen die Polizisten den Aktivisten den Vortritt, etwa um in einer brenzligen Situation zu vermitteln.

Doch sobald die Beamten einschreiten, mischen sich die Freiwilligen nicht mehr ein. Und das vermutlich Wichtigste dabei: Die Mitglieder der Bürgerinitiative halten ihre Kontakte und Gespräche vor der Polizei geheim, um nicht das Vertrauen der Gemeinde zu verspielen. «Wir arbeiten zusammen», betont der Polizeiinspektor Hugh Bogle, dessen Einheit in Problemvierteln patrouilliert.

Wird eine Schiesserei gemeldet, informieren die Beamten die Freiwilligen darüber, ob eine Vergeltung drohen könnte, damit diese sich einschalten können. Bogle begrüsst es, dass durch solche Programme kürzlich entlassene Gangmitglieder Arbeit finden können und so hoffentlich nicht wieder auf die schiefe Bahn geraten.

Auch bei den Anwohnern finden die Gruppen Anklang. Einige misstrauten der Polizei wegen deren bisweilen harten Vorgehens, sagt Charlene Shields, die in der Nähe des S.O.S.-Büros in Bedford-Stuyvesant wohnt. Die Mitarbeiter der Gruppen dagegen würden eher als unterstützende Partner in der Gemeinde betrachtet. «Wenn wir S.O.S. nicht hätten, um auf unsere Kinder aufzupassen, wären wir den ganzen Tag in Panik», sagt Shields. «Sie machen ihre Arbeit. Die Gemeinde braucht sie.»

Besondere Herausforderungen

In diesem Jahr stehen sowohl Polizei als auch Nachbarschaftswächter vor besonderen Herausforderungen. Seit Jahresbeginn wurden in der Stadt 16 Menschen im Alter zwischen zehn und 18 Jahren ermordet und damit bereits so viele wie im gesamten Vorjahr. Insgesamt 15 Prozent aller Mordopfer seit Mai waren 18 Jahre alt oder jünger. Unter ihnen war der 15-jährige Lesandro «Junior» Guzman-Feliz, der im Juni vor einem Lokal in der Bronx von einer Gruppe von Männern erstochen wurde. Die auf Video aufgezeichnete Bluttat schockierte die Stadt.

In einem bestimmten Viertel im Norden von Brooklyn waren laut Polizei vier von sechs Mordopfern im vergangenen Monat 16 Jahre alt oder jünger. In alle Taten seien Banden verwickelt gewesen. In solchen Fällen treten die Nachbarschaftswächter auf den Plan. Nach gewaltsamen Übergriffen besuchen sie die Opfer im Krankenhaus, trösten die Angehörigen und stellen sicher, dass es nicht zu Racheakten kommt. Innerhalb von 72 Stunden nach der Tat halten sie eine Kundgebung am Tatort ab - mit Megafon, Sprechchören und Zeichen, um die Nachbarschaft auf die Gewalt aufmerksam zu machen.

Das Programm verbucht offenbar Erfolge: Als S.O.S. 2010 im Stadtteil Crown Heights seine Arbeit aufnahm, gab es dort 24 Schiessereien. Im vergangenen Jahr waren es nur noch drei. Zu den Mitarbeitern der Gruppe dort gehören die beiden Ex-Häftlinge Lawrence Brown und Joshua Simon. Ihre Erfahrung im Gefängnis nutzen sie nun, um jüngere Männer vor einer kriminellen Laufbahn zu warnen. Ihnen müsse klar sein, dass ihnen im Fall einer Festnahme einLeben in einer winzigen Gefängniszelle drohe, sagt Simon ihnen: «Und wenn ich so mit ihnen rede, wachen sie auf.»

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