Graphic Novel Graphic Novels erzählen rührige Erinnerungen

SDA

19.12.2019 - 11:08

Jan Bachmanns «Der Berg der nackten Wahrheit» gehört zu den neu erschienenen Graphic Novels in der Schweiz.
Jan Bachmanns «Der Berg der nackten Wahrheit» gehört zu den neu erschienenen Graphic Novels in der Schweiz.
Source: Edition Moderne

Wie schön war es doch früher! In zwei neuen Comic-Büchern erinnern Jan Bachmann – «Der Berg der nackten Wahrheiten» – und Marc Locatelli – «Die Nacht, in der ich Eddy Merckx bezwang» – an heroische Zeiten.

Der Monte Verità ist bis heute ein von Legenden umwobener Berg, obwohl seine glorreiche Epoche 100 Jahre zurückliegt. Damals zu Anfang des 20. Jahrhunderts tummelten sich oberhalb von Ascona Utopisten aller Couleur, um die vegetabile Zukunft zu begründen.

Einträchtig ging es damals freilich nicht zu. Der Widerstand gegen Kapitalismus und Konsumismus förderte ungleiche Ideen zu Tage, in deren Widersprüche sich die kleine Gemeinschaft von Nudisten, Veganern und Anarchisten bald verhedderte. Ganz zu schweigen von der lokalen Bevölkerung, die dem Treiben halb belustigt, halb feindselig zusah.

Die Ziege erzählt

Jan Bachmann trägt diesen Widerständen und Widersprüchen Rechnung, wenn er seine kleine Geschichte des Monte Verità in anekdotischen Episoden erzählt. Er verarbeitet dabei, wie er in den Anmerkungen schreibt, Texte der zugezogenen Utopisten ebenso wie Berichte von Einheimischen.

Entstanden ist daraus ein wild gezeichneter Reigen, der mit Ironie und Empathie die Kolonie der Weltverbesserer porträtiert. Ins Zentrum rückt allmählich eine sprechende Ziege, die sich auf den Berg verirrt und die Geschichte aus ihrer Perspektive erzählt.

Einer der Nudisten-Jünger, Gusto Gräser, adoptiert sie und tauft sie auf den Namen «Parsifal» – ganz gegen den Willen der Dorfbevölkerung, was zu bösen Auseinandersetzungen führt.

Turbulente Bildsprache

Jan Bachmann setzt diese Turbulenzen, wie schon in seinem «Mühsam»-Comic 2018, auf zeichnerische Weise um. Sein ungeregelter Strich wirkt spontan, frech und karikierend. Die Raumordnung löst sich ständig auf, eine bunte Kolorierung gibt grell die Bildstimmung wieder. Auf diese Weise verfremdet er das historische Geschehen und eignet es sich selbst an.

Dem «Berg der nackten Wahrheiten» liegen intensive Recherchen zum Monte Verità zugrunde. Sie machen die gewitzte Graphic Novel zu einer auch historisch fundierten Erzählung, die den aufwiegelnden, befreienden Spirit adäquat wiedergeben will. Einzig der skizzenhafte Epilog wirkt etwas überflüssig.

Das grosse Rennen

Ein ganz und gar privater Mythos steht dagegen im Zentrum von Marc Locatellis Buch «Die Nacht, in der ich Eddy Merckx bezwang». Als junger Radrennfahrer erhielt der Autor 1978 Gelegenheit, im Hallenstadion gegen den grossen Eddy Merckx anzutreten. «Der Kannibale» wurde dieser genannt, weil er sich nie einen Sieg entgehen liess.

Der junge Amateur rechnet sich dennoch eine Chance fürs Rennen aus, wenn er sich nur am Rad von Felice Gimondi halten könnte. Das erweist sich als schwierig – aber es gelingt ihm. Und zum Schluss überspurtet er sogar den grossen Eddy im Kampf um den achten Platz.

Genau in den Details

Locatellis Buch ist der Form nach ein klassisches Comic-Buch im Umfang von 48 Seiten. Im Wechsel von kleinteiligen Bildfolgen und grossen Panoramen erzählt er die Geschichte dieses Radrennens, das für den damals hoffnungsvollen Amateur Loki Locatelli ein Ereignis fürs eigene Fotoalbum war.

Genau deshalb legt der spätere Autor und Zeichner grössten Wert auf die unscheinbaren Details. Keine Kleinigkeit wie etwa das Besetztzeichen an der WC-Türe, hinter der Eddy le Plus Fort gerade sitzt, wird ausgelassen. Der Zeichner arbeitet die Figuren genau und erkennbar heraus, sodass der Verlauf des historischen Rennens exakt nachzuvollziehen ist.

Der achte Platz

Natürlich ist «Die Nacht, in der ich Eddy Merckx bezwang» auch ein Buch für Radsportliebhaber, denen Namen wie Moser, Sercu, Gisiger noch vertraut sind. Stellvertretend für diese Leser sitzen drei Kenner auf der Tribüne: «Aber unsere Rennen waren härter», geben sie zum Besten So ist es mit der Vergangenheit.

Um auch jüngere Generationen teilhaben zu lassen, erklärt Marc Locatelli alles Wissenswerte im Anhang und – mit etwas zu viel Elan – auch schon im Verlauf der Geschichte selbst.

Durch sein heroisches Rennen gestärkt, hätte Loki tags darauf Sylvie ins Kino einladen wollen. Ein Beau kommt ihm leider zuvor. Nur den achten Platz kann ihm keiner nehmen, mögen die Zeitungen auch anderes geschrieben haben. Zum Beweis ist es hier präzise dokumentiert und im Bild festgehalten.

Verfasser: Beat Mazenauer, ch-intercultur

Notiz: Jan Bachmann: Der Berg der nackten Wahrheiten. 112 Seiten, Fr. 29.80 (UVP).

Marco Locatelli: Die Nacht, in der ich Eddy Merckx bezwang. 48 Seiten, Fr. 29.80 (UVP). Beide Ed. Moderne, Zürich 2019.

Zurück zur Startseite