Graphic NovelGraphic Novels erzählen vom Verschwinden
SDA
18.12.2019 - 11:10
Wenn die Sprache ausbleicht, bleiben die Bilder. In «Vergiss dich nicht» erzählt Lika Nüssli von der Demenz ihrer Mutter. Das Duo Wazem und Tirabosco steigt mit «La fin du monde» ins Unterbewusste einer jungen Frau.
Die Künstlerin Lika Nüssli widmet ihre Geschichte der eigenen Mutter und macht keinen Hehl daraus, dass der Band «Vergiss dich nicht» einem realen Geschehen entspringt. Das Buch hält Momente fest, schreibt sie, die stetig vorübergehen und «zu eigenen unsteten Bildern im Kopf» werden.
Ein Buch über das Vergessen
Lika Nüsslis Mutter leidet seit Jahren an Demenz. Die Besuche bei ihr im Heim waren für die Künstlerin quälend, bis sie entdeckte, dass es hilft, wenn sie dabei zeichnet. Aus diesen Zeichnungen ist ein berührendes Buch über das Vergessen entstanden.
In einem Vorspann in Grün spricht die Autorin ihre Mutter persönlich an und erzählt ihr aus eigener Perspektive gerafft, was sie mit ihr verbindet. Dazu stellt sie Zeichnungen, die Mutter und Tochter zeigen. Sie erscheinen eingebettet in einen gestrichelten Knäuel, der sich laufend verändert und zum Pferd, zur Alp, zur Wolke wird.
Karger und unsteter auf weissen Grund gezeichnet, folgen anschliessend die Szenen aus dem Heim. Frau Nüssli versteckt immer wieder ihr Gebiss. Herr Krause fürchtet sich davor, dass ihn niemand hört. Und die resolute Frau Baldegger erhält eine neue Zimmernachbarin.
Lustig und traurig
Im Heim spielen sich lustige, zugleich traurige Geschichten ab. Auch wenn sie sprechen, schweigen die dementen Patientinnen und Patienten. Die grossen Zusammenhänge sind ihnen entglitten, behalten haben sie lose Erinnerungen, die die zeichnende Chronistin in Bilder übersetzt.
Sie tut es mit skizzenhaftem Realismus, der auch die rührigen Pfleger, die aus Italien, der Türkei oder Polen stammen, mit aufnimmt. Indem Lika Nüssli die Alpträume mal fantastisch, mal metaphorisch ins Bild rückt, lässt sich erahnen, was in den Köpfen der Dementen vorgehen könnte. Mehr ist nicht möglich. Dem Herrn Blöchlinger bleibt nur noch das Fluchen.
Sprechende Topfpflanzen
Immer wieder bricht der Strich vollends aus und verwandelt die Seiten in wuchernde Fantasiegebilde, in denen die Patienten sich bedrängt oder geborgen fühlen. Die anfänglich kleinteilige Seitenstruktur löst sich dabei gänzlich in der Doppelseite auf. Bis am Schluss nur noch sprechende Topfpflanzen übrig bleiben.
Die Unverblümtheit, mit der sich Lika Nüssli den Dementen nähert, verwandelt sich zusehends in ein vegetatives Wuchern, worin das Vergessen aufgehoben ist. Auf diese Weise bewahrt Lika Nüssli den Menschen ihre Würde.
Das Ende der Welt
Das Vergessen spielt auch in «La fin du monde» von Wazem und Tirabosco eine zentrale Rolle. In einer stürmischen Gewitternacht verunglückt ein Auto, eine Schwangere findet dabei den Tod. Dann Schnitt. Eine alte Frau fragt bei sonnigem Wetter nach einem Regenschirm. Schnitt. Der grosse Regen setzt ein. Eine junge Frau macht sich trotzdem auf den Weg, um im Haus ihres Vaters, der im Krankenhaus liegt, die Katze zu versorgen.
Im Schatten dieser realen Vorgänge bahnen sich Dinge an, die sich jeder Erklärung entziehen. Nach und nach werden der Unfall, die alte Frau und der grosse Regen zu einem Geflecht verwoben, in dessen Zentrum die junge Frau steht, die sich leer fühlt und «weder erwachsen noch am Leben».
Zwei Meister aus der Romandie
Für diese Graphic Novel haben sich zwei Meister der Bandes dessinées zusammengetan. Pierre Wazem, der auch zeichnet, schrieb das tief ins Unterbewusste hinabtauchende Szenario, Tom Tirabosco trug dazu eine verführerisch schöne Bildspur bei.
Wazem spielt mit esoterischen Motiven, ohne ganz ins Übersinnliche zu kippen. Im Moment des väterlichen Todes spielt sich im Kopf der jungen Frau ein befreiendes Psychodrama ab. Von der alten Frau erfährt sie eine mysteriöse Geschichte, die sie vielleicht schon geahnt, doch nicht gewusst hat.
Ein perfektes Doppel
Das Vergessen ist heilsam, zugleich kann es quälen. Die Geschichte vom Ende der Welt ruft apokalyptische Bilder hervor, die tief ins Unterbewusste einfliessen. Was dabei real ist und was traumhaft surreal, bleibt offen. Die Leserinnen und Leser finden eine eigene Antwort darauf.
Erzählung und Bild ergänzen sich dabei ausgezeichnet. Auf der Textgrundlage von Wazem variiert Tirabosco die Perspektiven, moduliert und schattiert. Die Katze räkelt und putzt sich dazu mit einer Grazie, die den genauen Beobachter und Katzenfreund erkennen lässt. Und die blaue Pastelltönung verleiht den Monotypie-Druckbildern eine farbliche Facette zwischen Traum und Wachen.
Verfasser: Beat Mazenauer, ch-intercultur
Notiz: Lika Nüssli: Vergiss dich nicht. Vexer, St. Gallen/Berlin 2018. 176 Seiten, 38 Franken (UVP).
Pierre Wazem (Text), Tom Tirabosco (Bilder): La fin du monde. Futuropolis, Paris 2019 (Neuausgabe). 116 Seiten, Fr. 34.30 (UVP).
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