Islamist, krank – oder beides? Noch immer unklare Motivlage nach Messerattacke in Würzburg

Von Angelika Resenhoeft, Carolin Gißibl und Michael Donhauser, dpa

27.6.2021 - 15:33

Ein Herz mit der Aufschrift «Worte fehlen» liegt zwischen Kerzen in der Innenstadt. 
Ein Herz mit der Aufschrift «Worte fehlen» liegt zwischen Kerzen in der Innenstadt. 
Karl-Josef Hildenbrand/dpa

In einem Kaufhaus, einer Bank, auf der Strasse: In der fränkischen Stadt Würzburg in Deutschland sticht ein Mann ihm unbekannte Menschen nieder. War es ein islamistischer Anschlag? Oder ist die Persönlichkeit des Mannes gestört?

DPA, Von Angelika Resenhoeft, Carolin Gißibl und Michael Donhauser, dpa

Bei der Suche nach den Hintergründen für die tödliche Messerattacke von Würzburg haben es die Ermittler mit einer komplizierten Motivlage zu tun.

Unklar war auch am Sonntag, zwei Tage nach dem Angriff, inwiefern die Psyche des 24 Jahre alten Somaliers eine Rolle gespielt hat – und ob auch islamistische Einstellungen zur Tat beigetragen haben könnten. «Es schliesst sich auch nicht unbedingt gegenseitig aus», sagte y Joachim Herrmann am Samstag, knapp 24 Stunden nach der Gewalttat mit drei Toten und sieben Verletzten.

Eine solche Situation gab es auch beim Anschlag eines Rassisten im hessischen Hanau. Der psychisch kranke Mann tötete 2020 neun Menschen mit Migrationsgeschichte, seine Mutter und sich selbst. Unterfrankens Polizeipräsident Gerhard Kallert warnte daher vor Vorverurteilungen: «Das Ergebnis kann nur am Schluss der Ermittlungen stehen.»

Herrmann sagte: «Es gibt jedenfalls Indizien dafür, dass es sich um einen islamistischen Anschlag handeln könnte.» Ein Zeuge hatte dem Minister zufolge angegeben, der Verdächtige habe bei der Tat «Allahu Akbar» (deutsch: Gott ist gross) gerufen. Dschihadisten und Salafisten benutzen diesen Ausdruck oft wie einen Schlachtruf. Damit kapern die Extremisten die zentrale religiöse Formel des Islam, die seit Jahrhunderten von Muslimen weltweit benutzt wird.



Das Phänomen des Einzeltäters

Der deutsche Terrorismusforscher Peter Neumann vom King's College London warnte vor einer vorschnellen Bewertung des Motivs. Wichtig sei etwa, wie intensiv und wie lange der Mann sich mit dschihadistischen Inhalten beschäftigt habe, ob er mit anderen hierüber gesprochen habe und in jüngster Zeit ein gesteigertes Interesse daran gehabt habe. «Ob der Attentäter von Würzburg ein «Dschihadist» war, ergibt sich aus den Antworten auf die zwei oben genannten Fragenkomplexe. Kurzum: Wir müssen uns gedulden, denn aufgrund bisheriger Informationen lässt sich die Frage (noch) nicht abschliessend beantworten», betonte Neumann auf Twitter.

Nach seiner Einschätzung sind Einzeltäter «mittlerweile der dominante Modus Operandi bei extremistisch motivierten Gewalttaten in ganz Europa». Das gelte sowohl für Islamisten wie auch für Rechtsextremisten. Gut daran sei, dass Einzeltäter meist weniger raffiniert vorgingen und deshalb weniger Menschen töteten. Schlecht sei, dass sie für die Sicherheitsbehörden schwerer zu erkennen seien, da sie weniger deutlich in operative Netzwerke eingebunden seien.

Die entscheidende Frage sei, ob der Täter bei der Ausführung und/oder Vorbereitung der Tat zurechnungsfähig gewesen sei. Das sei bei Psychosen oder sehr schweren Persönlichkeitsstörungen nicht der Fall. «Doch bei leichteren Persönlichkeitsstörungen schliessen sich Extremismus und psychische Vorbelastung nicht gegenseitig aus», so Neumann. «Mehr noch: Sie können sich ergänzen – eventuell sogar verstärken.»

Mutmasslicher Täter sitzt in U-Haft

Der Verdächtige sitzt wegen dreifachen Mordes, versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung in sechs Fällen und vorsätzlicher Körperverletzung in einem weiteren Fall in Untersuchungshaft. Der 24-Jährige war nach dem Verbrechen, das sich in einem Kaufhaus, einer Bank und auf der Strasse abgespielt hatte, von der Polizei angeschossen und festgenommen worden. Das bayerische Landeskriminalamt übernahm in Zusammenarbeit mit der Münchner Generalstaatsanwaltschaft die Ermittlungen, weil es sich um eine «Amoklage» gehandelt habe, erklärte Würzburgs Leitender Oberstaatsanwalt Frank Gosselke.

Der Verdächtige hatte laut Polizei am Freitagnachmittag in der Innenstadt drei ihm offensichtlich unbekannte Frauen (24, 49, 82) getötet. Zudem verletzte er drei weitere Frauen (39, 52, 73), ein Mädchen (11) und einen Jugendlichen (16) lebensgefährlich mit einem Messer sowie einen Mann (57) und eine weitere Frau (26) leicht. Die Elfjährige ist die Tochter der getöteten 49-Jährigen.

Ob der Messerangreifer gezielt Frauen umbringen wollte, ist unklar. «Die sichergestellten Gegenstände werden ausgewertet», sagte ein Sprecher des Landeskriminalamtes dazu. Das werde einige Zeit dauern, weil beispielsweise Material, das in der Obdachlosenunterkunft des Mannes in der Mainstadt gefunden wurde, in somalischer Sprache sei. Daher sei es auch noch zu früh, etwa von Hassbotschaften zu sprechen. Die Beamten werten auch ein gefundenes Handy aus.

Verdächtiger war legal in Deutschland

Der 24-Jährige war schon vor der Tat wegen Bedrohung und Beleidigung polizeibekannt, er kam deshalb zeitweise in eine Psychiatrie. Das Verfahren läuft noch, ein psychiatrisches Gutachten steht noch aus, wie die Generalstaatsanwaltschaft Bamberg erklärte.

Der Mann aus dem Bürgerkriegsland Somalia war den Ermittlern zufolge am 6. Mai 2015 nach Deutschland eingereist. Seit dem 4. September 2019 war der Asylbewerber in Würzburg erfasst und erhielt subsidiären Schutz – er hält sich also legal in Deutschland auf.

Der Pflichtverteidiger des 24-Jährigen hält es für möglich, dass sich sein Mandant in der U-Haft etwas antun könnte. «Was ich feststelle, ist, dass er psychisch auffällig ist», sagte Hanjo Schrepfer. Auch die Ermittler sehen offensichtlich diese Gefahr: «Die zuständige Justizvollzugsanstalt ist über eine mögliche Selbstgefährdung informiert», sagte der LKA-Sprecher

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder bezeichnete die Bluttat am Samstag als Amoklauf. Aus Sicherheitskreisen hiess es, der junge Mann habe bei seiner Vernehmung eine Äusserung gemacht, die auf religiösen Fanatismus schliessen lasse. Hinweise auf Kontakte zu militanten Salafisten gibt es dem Vernehmen nach bisher jedoch nicht. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier äusserte sich «erschüttert». Zudem drückten Vertreter verschiedener Parteien ihr Mitgefühl aus.

In der Universitätsstadt Würzburg stellten Menschen am Tatort Kerzen im Gedenken an die Opfer auf und legten Blumen nieder. Am Sonntagnachmittag sollte es im Kiliansdom eine Gedenkfeier geben. Die Tat erinnert in Würzburg an einen islamistischen Anschlag vor knapp fünf Jahren mit vier schwer verletzten Menschen in einem Zug.